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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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schon schwer genug ist, dann tun wir uns im Umgang mit der Antwort nicht leicht. Der Umgang mit Verlust und Tod gehört nicht zu unseren besonderen Vorlieben, ihr Sinn leuchtet uns nicht ein. [217]   Der Tod widerspricht unseren Vorstellungen einer Person, die durch ihr intentionales Handeln auf ihre Umwelt einwirkt und sie dabei gestaltet. Der Tod bedeutet das unwiderrufliche Ende dieser menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten und stellt daher das persönliche Selbstbild als handelndes Subjekt auf radikalste Weise in Frage.
    Aber bleiben wir zunächst bei der Frage: Wie erkenne ich, dass etwas nicht mehr ist? Die Antwort lautet: mittels der Leichenschau! In der Leichenschau wird das Unsichtbare sichtbar, das Verlorene erkennbar. In der Leichenschau kann man sich vom Verlorenen überzeugen.
    Die Betrachtung der Leiche bringt unmittelbar einen fast unglaublichen Erkenntnisgewinn. Die Leiche zeigt einen ehemals lebendigen Menschen. Sie ermöglicht die Wahrnehmung von etwas, was nicht mehr da ist. Kindern gelingt diese anspruchsvolle Erkenntnis oftmals besser als Erwachsenen. Kinder, denen die Leiche eines toten Familienmitgliedes nicht vorenthalten wird, bringen ihre Erkenntnis einfach auf den Punkt: »Das ist nicht Opa!« Der Unterschied zwischen vorher und jetzt, zwischen vormals lebendem Menschen und Leichnam wird nicht verwischt. [218]  
    Die Begegnung mit der Leiche ist also ein wesentliches Element gelingender Trauerarbeit. Doch so wie die Sorge um den Sterbenden dem medizinischen System und seinen Techniken übertragen werden kann, wird die Sorge um den toten Körper meist den dafür zuständigen professionellen Dienstleistern übertragen. Dadurch besteht die Gefahr, dass der tote Körper dem Erleben oder zumindest der Betrachtung durch die Angehörigen entzogen wird. Die Trauerarbeit wird dadurch erschwert.
    Auf vergleichbare Weise überlassen wir die Sorge um überlebte Ideen, Vorstellungen oder Soll-Werte gern anderen – professionellen Aufmunterern, Tröstern oder Durchhaltecoachs. Dabei ist es gerade hier, wo der »Hinterbliebene« der Produzent und (ehemalige) Besitzer dieser Ideen ist, wichtig, sich der Betrachtung des Verlorenen auszusetzen.
    Geschieht dies nicht, kann sich daraus eine unangemessen lange Anwesenheit des Toten und der toten Vorstellungen ergeben. Es gibt dann kein Vergessen, weil nicht Abschied genommen werden kann.
    Wir machen uns notwendigerweise ein Bild von anderen und von uns selbst. Wir können uns aber unterschiedliche Bilder machen, die unterschiedliche Folgen haben: Hoffnungsbilder, die uns das Abschiednehmen und Trauern verunmöglichen, oder Verzweiflungsbilder, die uns überzeugen, dass etwas unwiederbringlich und unwiderruflich verloren ist, und die uns daher die Berechtigung geben, zu trauern und uns dann dem Leben wieder zuzuwenden.

Basler Leichenschauen
    Im Basler Kunstmuseum lassen sich verschiedene Leichenschauen vornehmen. Da sie zu sehr unterschiedlichen Einsichten führen, wollen wir hier eine kurze Exkursion einschieben.

Leichenschau 1
    In einem der Ausstellungsräume kann man sich dem »toten Christus im Grabe« von Hans Holbein dem Jüngeren aus dem Jahre 1521 aussetzen.
        
    Das Gemälde ist eine der größten Provokationen der abendländischen Malerei. Christus liegt in einer flachen Grabnische, die gerade genug Raum für seinen Körper bietet. Gesicht, Hände und Füße zeigen Leichenflecken, die Augen sind gebrochen, der Mund ist halb geöffnet. Der Betrachter wird optisch sehr nahe an die Leiche herangeführt. Man sieht die Rippen, die sich unter der Haut abzeichnen, die Wunden an der Seite, an den Händen und Füßen, einen geschundenen und zweifellos toten Körper. Die Finger lassen noch den Schmerz und Todeskampf erahnen, der ausgestreckte Mittelfinger überzeugt, dass die Muskulatur durchtrennt wurde. Der Anblick ruft Abscheu, Entsetzen und eine tiefe Erschütterung hervor.
    So auch bei Fjodor Dostojewski, der im August 1867 das Kunstmuseum Basel besuchte und auch den toten Christus im Grabe sah. Seine Frau schreibt in ihren Erinnerungen [219]   , dass ihn das Bild außerordentlich beeindruckt habe und er in Tränen und wie erschlagen vor ihm stand. Sein Gesicht habe den erschreckten Ausdruck gezeigt, den sie immer in den ersten Minuten eines epileptischen Anfalls bei Dostojewski bemerkte. Was hatte ihn erschüttert? In seinem Roman »Der Idiot« gibt er die Antwort: »Dieses Bild! Vor diesem Bild kann manchem der Glauben verloren gehen!«

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