Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
einer Depression. Depression hält fest an dem, was einmal war, koste es was es wolle: die gute Stimmung, das Gefühl lebendig zu sein, ja gar das eigene Selbst.
Die Wahl: Lebensbilder oder Leben?
Wir alle haben die Neigung, an den Bildern festzuhalten, die wir uns vom Leben gemacht haben – auch wenn unsere Erfahrungen immer wieder enttäuschend davon abweichen. Lieber ändern wir das eigene Leben so ab, dass es zu unseren Vorstellungen passt, als dass wir unsere Vorstellungen dem Leben anpassen.
In seinem Episoden-Film »Kurosawas Träume« geht der japanische Filmregisseur Akira Kurosawa auf eindrückliche Weise diesem Thema nach. [211] In einer der acht Episoden geht es um das verhängnisvolle Verhältnis zwischen Realität und Vorstellung: Im Van-Gogh-Museum in Amsterdam bewundert ein japanischer Tourist die Bilder Van Goghs. Er ist offensichtlich ein Maler, denn er hat eine Staffelei bei sich. Vor dem berühmten Bild »Die Brücke von Langlois« bleibt er stehen. Dann lösen sich die Grenzen zwischen dem Gemälde und der Realität auf. Der Tourist befindet sich in einer Landschaft, zu der auch die Brücke von Langlois gehört. Er geht durch Van Goghs südfranzösische Landschaftsbilder. Die Unterschiede zwischen Bild und Abgebildetem lösen sich auf. Unser japanischer Museumsbesucher wandert durch die Landschaft(sbilder). Auf einem der bekannten van Gogh’schen Weizenfelder entdeckt er einen Maler vor seiner Staffelei. Der Mann ist Vincent van Gogh. Die beiden kommen miteinander ins Gespräch:
Van Gogh: Warum malen Sie nicht? – Eine malerische Landschaft ist noch kein Gemälde. – Alles in der Natur ist auf seine Art schön. – Ich verliere mich in der Schönheit der Natur. – Dann ist es wie im Traum. Das Bild entsteht von selbst. Ich nehme es in mir auf, ich verschlinge die Natur. Ist dieser Prozess beendet, liegt das ganze Bild fertig vor mir. Es ist so schwierig, es in mir festzuhalten.
Tourist: Was machen Sie dann?
Van Gogh: Ich arbeite Tag und Nacht, wie ein Sklave, als wäre ich eine Lokomotive. – Ich muss mich beeilen, meine Zeit läuft ab. Mir bleibt so wenig Zeit zum Malen.
Tourist: Ist etwas passiert? Haben Sie sich verletzt?
Van Gogh: Das hier? (Deutet auf den Verband um seinen Kopf) – Gestern wollte ich ein Selbstporträt fertig stellen. Mein Ohr gelang mir nicht, da schnitt ich es ab und warf es weg.
Das ist der Preis dafür, wenn Selbstporträts nicht abgeändert werden dürfen: Ohren abschneiden! Sein Leben dem Bild vom Leben anpassen! Das Leben beschneiden, bis es zum Bild passt! Das eigene Selbst so verstümmeln, dass das Selbstbild unverändert aufrechterhalten werden kann!
Trauer und Depression: gleiche Erfahrung – unterschiedliche Konsequenzen
Der Trauernde und der Depressive machen die gleiche Erfahrung, gehen aber unterschiedlich mit dieser Erfahrung um. Beide machen die Erfahrung, dass die Landschaft nicht mehr zur der Landkarte passt, die man sich angefertigt und bisher benutzt hat. Der Depressive versucht weiterhin seine Landkarte zu benutzen, auch wenn er damit nirgendwo hingelangt. Der Trauernde dagegen realisiert, dass seine alte Landkarte ausgedient hat; sie wird der Realität nicht mehr gerecht, er kann sich nicht mehr an ihr orientieren. Diesen Verlust betrauert er.
Jeder, der schon einmal getrauert hat, weiß, dass man sich kaum je mehr spürt als in der Trauer. In der Depression dagegen geht das Gefühl für sich selbst, der Kontakt zum eigenen Selbst verloren.
In der Trauer, im Prozess des Trauerns geben wir das Bild von uns, vom Leben und unserem Dasein in der Welt auf. Wir finden später dann zu einem neuen Bild.
Die Depression dagegen ist die Arbeit am verlorenen Objekt, der Versuch, die neue Realität zugunsten des alten Bildes rückgängig zu machen, notfalls um den Preis der eigenen Lebendigkeit und des eigenen Lebens. [212]
Voraussetzung des Trauerns: die Leichenschau
Im Allgemeinen trauern wir um einen Menschen, den wir verloren haben. Anlass zur Trauer kann aber auch der Verlust von Vorstellungen, Ansprüchen, Vorhaben und Werten sein. Die Voraussetzungen zur Trauer sind in beiden Fällen dieselben.
Die wichtigste Voraussetzung ist die Feststellung und Anerkennung des Umstandes, dass es den Verlust tatsächlich gibt. Das klingt zunächst banal, ist in Wirklichkeit aber ein anspruchsvoller Erkenntnisprozess. Es geht um die komplizierte Frage: Wie erkenne ich, dass etwas nicht mehr ist?
Haben wir die Antwort, die zu finden
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