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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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stattfindet. Der Schuldner muss nicht erfahren, dass Vergebung stattgefunden hat.
    Vergebung ist auch nichts, was einem geschieht, sondern etwas, das nur stattfindet, wenn man es tut. Der Vergebende entscheidet sich zum Vergeben, er muss es nicht tun. Vergeben kann also nichts anderes als eine freie Entscheidung eines Menschen sein, der sich diese Freiheit nimmt. Er wird vertragsbrüchig und macht sich selbst das Geschenk der Vergebung.

Frau Neumann: Schuld und Wiedergutmachung – revisited 2
    Nachdem Frau Neumann in mehreren psychotherapeutischen Sitzungen ihre Situation dargestellt hat, macht der Psychotherapeut ihr einen Vorschlag. Frau Neumann soll sich mehrere Wochen darauf konzentrieren, was ihr andere schuldig geblieben sind (besonders ihre Mutter), darauf, was sie anderen schuldig geblieben ist (besonders ihrer ersten Tochter) und auf das, was sie sich selbst ihrer Meinung nach schuldig geblieben ist.
    Diese Beschäftigung mit der Schuld soll ihr die Möglichkeit bieten, offene Rechnungen, d.h. Ansprüche, die noch nicht beglichen sind, aufzuschreiben. Der Vorschlag geht dahin, ein oder mehrere Schuldenregister anzufertigen. Dazu kann sie zum Beispiel, so der Vorschlag, ein leeres Notizheft benutzen – also ein Schuldenregister –, das sie am besten immer mit sich führt. So kann sie jederzeit, wenn ihr etwas einfällt, den Gedanken notieren. Am Abend lassen sich die am Tag aufgezeichneten Ansprüche nach Wunsch überprüfen, korrigieren oder auch wieder verwerfen. Dieser Prozess darf ruhig einige Zeit in Anspruch nehmen.
    Wenn Frau Neumann dann – aber frühestens nach einem Monat, so die Abmachung – das Gefühl hat, nun sei das Anspruchsregister vollständig, solle sie das Register noch einmal sorgfältig abschreiben und in eine endgültige Form bringen.
    Es könne sein, führt der Therapeut aus, dass sie danach untrüglich und eindeutig merke, wann der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um das Anspruchsregister zu verbrennen. Dieses Gefühl könne sich schon unmittelbar nach der Anfertigung der Endfassung des Registers einstellen, es könne aber auch einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr bis zu diesem Moment dauern. Vielleicht würde der Wunsch auch nie aufkommen. Wenn es aber so weit sei, solle sie das Register bitte nicht verbrennen.
    Überrascht fragt Frau Neumann nach einer Erklärung. Dieser Akt, meint der Therapeut, könne eine so große Veränderung in ihrem Leben bewirken, dass das Ganze nicht ohne Risiko sei. Niemand könne sicher voraussagen, was dann geschehe. Vielleicht würde sich die Beziehung zu ihrer Mutter entspannen, und es käme sogar zu einem Neuanfang mit ihr. Vielleicht würde aber auch der Kontakt zur Mutter ganz abbrechen, weil nur die Schuldvorwürfe die Tochter noch an die Mutter gebunden haben könnten. Vielleicht könne sie ein neues und entspannteres Verhältnis zu sich selbst finden und würde zukünftig mehr darauf achten, was ihr guttut. Dann würde sie eventuell ihren Mandanten auch einmal etwas abschlagen und nicht mehr bis zum Umfallen arbeiten. Die Folge könne aber auch sein, dass sie undisziplinierter und egoistischer würde, dass sie wieder Spaß am Genuss fände, wieder dem Alkohol zuspräche und ihre Kinder nicht mehr auf ihre Unterstützung rechnen könnten. Daran solle sie denken, wenn der Wunsch aufkäme, das Schuldenregister zu verbrennen.
    Später berichtet Frau Neumann von den Veränderungen, die mit ihr vor sich gegangen sind, nachdem sie angefangen hatte, das Schuldenregister anzulegen.
    Vor diesem Zeitpunkt hatten ihre Schuldgefühle sie eingeengt und niedergedrückt wie ein seltsamer, unförmiger Fremdkörper in ihrer Brust, der ihr die Luft nahm. Sobald sie aber begonnen hatte, ihre Ansprüche konkret zu benennen und zu überlegen, wie sie konkret eingelöst werden könnten, verspürte sie eine Erleichterung auch in der Brust. Die befreienden Gefühle verstärkten sich mit dem Aufschreiben der »Schuldposten«. Sie hatte manchmal sogar den Eindruck: Jetzt bin ich das alles los. Es steht ja jetzt auf dem Papier und rumort nicht mehr in meiner Brust.
    Schon kurze Zeit nach Fertigstellung der Endfassung des Anspruchsregisters war sie bereit, das Register zu verbrennen. Die Warnung ihres Therapeuten kam ihr in den Sinn, schien ihr aber übertrieben. Noch überlegt sie, ob sie das Anspruchsregister nicht doch ganz oder teilweise verbrennen soll. Aber auch ohne diese Entscheidung geht es ihr so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Was

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