Milchrahmstrudel
dort, wo das Geländer an einem Felswändchen endete, unter der Fichte stand.
Die Schaulustigen hatten sich inzwischen ein Stück von der Planke entfernt und umringten nun die Bergwachtmänner.
Fanni vernahm Rudis Stimme: »Zwanzig ist die Annabel, grade mal zwanzig.«
»Gar nicht wahr«, widersprach Bergwacht-Sepp. »Zweiundzwanzig ist sie. Das weiß ich, weil sie mit meiner Gisela eingeschult worden ist.«
Dem konnte Rudi nichts entgegensetzen. Fanni sah ihm von Weitem an, dass er an dieser Niederlage zu kauen hatte. Er schwieg einen Moment verstimmt, doch plötzlich schien ihm etwas Wichtiges einzufallen.
»Wo ist denn der Severin?«
»Ja, wo wird er denn schon sein?«, antwortete Sepp. »Daheim, vor seinem Computer. Was anderes kennt der doch nicht am Wochenende.«
»Der Severin hat aber die Annabel heut früh in seinem Auto hergebracht«, sagte Bergwacht-Rudi, »das hab ich selber gesehen.«
Bergwacht-Sepp schaute ihn skeptisch an. »Seit wann darf denn der auf der gesperrten Forststraße vom Waldhaus zur Hütte fahren?«, fragte er.
»Er hat den Max dabeigehabt«, antwortete Rudi, und das schien alles zu erklären.
Fanni musste eine Weile darüber nachgrübeln, bis auch ihr aufging, was Rudi meinte. Max der Hüttenwirt ging an Krücken, das hatte sie ja soeben selbst mitbekommen. Und deshalb besaß er gewiss eine Sondergenehmigung, die ihm erlaubte, jederzeit in einem Wagen vom Zwiesler Waldhaus zur Falkenstein-Schutzhütte zu fahren.
Fanni wurde durch lautes Schnaufen zu ihrer Linken vom Gespräch der Bergwachtmänner abgelenkt. Ein älterer Herr in Bundhosen, Lodenjanker und Trachtenhut hetzte den Pfad herauf. Er trug einen abgeschabten Rucksack aus der Vorkriegszeit.
Luis Trenker!
Eher eine Parodie auf ihn, dachte Fanni.
Der Ankömmling war klein und rundlich und sah mehr nach gemütlichem Opa als nach Bergkraxler aus. Seine Brille war vom Atemdunst angelaufen. Als er das Plateau erreichte, nahm er sie ab und schwenkte sie an einem ihrer Drahtbügel hin und her, damit sie wieder klar wurde.
Während er mit kurzsichtigen Augen in die Runde blinzelte, entdeckte ihn Rudi.
»He, Krautdoktor!«, schrie er. »Hast du es auch schon mitgekriegt?«
Der Bundhosen-Opa setzte die Brille wieder auf, wandte sich der Gruppe um die beiden Bergwächter zu und sah Rudi geradezu flehentlich an.
»Annabel«, keuchte er.
Rudi zeigte auf den Felsblock hinter dem Geländer und schüttelte mit feierlich-ernster Miene den Kopf.
Der Opa schrie auf und stürzte auf die Planke zu, als wolle er darüberhechten. Sepp erwischte ihn am Lodenjanker.
»Der Annabel kann keiner mehr helfen«, sagte er. »Wir nicht und du auch nicht – ganz egal, wie viel Kräutersaft du ihr brauen würdest.«
Fanni hörte den Opa schluchzen.
Ich sollte absteigen und nach Eisenstein zurückfahren, dachte sie. Es ist schon spät. Um sieben Uhr wird im Festsaal das Abendessen aufgetragen. Es fällt auf, wenn ich nicht da bin.
Aber sie blieb sitzen.
Fanni blieb sitzen und starrte den Waldboden zu ihren Füßen an, bis sie Sprudel neben sich spürte. Er legte den Arm um ihre Schultern.
»Hofer wird gleich da sein«, sagte er.
Hofer? Im nächsten Augenblick fiel es ihr ein. Hofer war Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Regen-Zwiesel. Sprudel und Hofer kannten sich aus gemeinsamen Jahren bei der Polizeidirektion in Straubing. Kurz nachdem Sprudel in Pension gegangen war, war Hofer zum Chef in Regen befördert worden. Er war es, der Sprudel eingeladen hatte, in seiner Dienststelle eine Vortragsreihe zum Thema Verhörmethoden zu halten. Und Sprudel war angereist.
Wegen einer Vortragsreihe!
Fanni musste lächeln.
Im vergangenen Jahr war Sprudel bereits dreimal von Levanto an der italienischen Riviera, wo er seit seiner Pensionierung lebte, nach Niederbayern gereist.
Aber nicht wegen einer Vortragsreihe, sondern wegen ihr.
Seit sie beide zusammen den Mord an Mirza Klein in Erlenweiler aufgeklärt hatten, verband Fanni und Sprudel eine enge Freundschaft. Tatsächlich war es viel mehr als eine Freundschaft.
Fanni wusste, dass Sprudel mit weit geöffneten Armen in der Tür seines Hauses in Levanto stehen würde, falls sie sich je dazu entschließen sollte, ihren Mann Hans Rot zu verlassen, um fast tausend Kilometer von ihren Kindern und Enkeln entfernt zu leben. Was Fanni nicht recht wusste, war, ob es klug wäre, die ihr so wertvolle Freundschaft mit Sprudel zugunsten einer Beziehung mit ihm aufzugeben.
Die Entscheidung darüber
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