Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
Eins
I ch hatte nie den Wunsch gehabt, auf ein Internat zu gehen. Mit einem Haufen reicher Sprösslinge in einer protzigen Schule rumzuhängen stand nicht gerade auf Platz Eins meiner Wunschliste. Ich war mit dem Leben, das ich bis dahin geführt hatte, mit meiner Art, mich auf mich selbst zu beschränken, bisher ganz gut klargekommen. Vielleicht war ich nicht glücklich, aber ich war zufrieden. Und dann, an einem schönen blauen Septembertag, wurde Frankie, meine Großmutter, ernsthaft krank.
Sie war für mich nie das gewesen, was man unter einer Oma versteht, sondern immer nur die liebste Frankie, meine Ersatzmutter, meine beste Freundin. Dumm, wie ich war, hatte ich angenommen, dass es für immer so bleiben würde. Aber niemand ist unsterblich, auch diejenigen nicht, die wir lieben. Und jetzt war Frankie krank, und ich musste meine Tasche für die Abteischule Wyldcliffe für junge Damen packen. Manchmal versetzt einem das Leben schon einen ziemlichen Tritt.
Ich gab mir alle Mühe, das Ganze als Herausforderung zu sehen.
Während ich in dem Zug nach Norden saß, kam es mir so vor, als würde die Reise ewig dauern. Ich fuhr allein dorthin. Dad wäre zwar gern mitgekommen, aber ich hatte ihn davon ?berzeugen k?nnen, dass ich auch ohne ihn zurechtkommen w?rde. Ich wusste, dass er jede freie Minute seines Urlaubs im Pflegeheim bei Frankie verbringen wollte, ehe er wieder zu seiner Armeeeinheit in ?bersee aufbrechen musste. Also erkl?rte ich ihm, dass ich sehr gut in der Lage w?re, ein paar Stunden in einem Zug zu sitzen, ohne auf irgendeinem Vermissten-Plakat zu landen ? Ehrlich, Dad, ich bin jetzt sechzehn, ich bin kein Kind mehr … Es war nicht sehr schwer gewesen, ihn zu überzeugen.
Die Wahrheit war: Ich glaubte, mich zu Hause leichter von ihm verabschieden zu können. Ganz sicher wollte ich nicht, dass die versnobten Mädchen von Wyldcliffe sahen, wie ich anfing zu heulen, wenn mein Vater wegfuhr. Nein, diesmal würde es keine »arme Evie« geben. Davon hatte ich bei der Sache mit Mom genug gehabt. Leute, die auf der Straße über mich tuschelten. Mitleidsvolle Blicke hinter meinem Rücken. Diesmal würde es anders sein. Ich würde ihnen zeigen, dass ich niemanden brauchte. Ich war stark, so stark wie der tiefe, grüne Ozean. Niemand in Wyldcliffe würde mich je weinen sehen.
Es dämmerte fast, als ich in einen verschlafenen Nahverkehrszug umstieg. Wir tuckerten durch eine unbekannte hügelige Landschaft, die mit Farnen und Heidekraut bewachsen war und als Moors bezeichnet wurde. Irgendwo tief in mir verspürte ich trotz meines Unglücks einen Stich der Neugier. Als ich klein gewesen war, hatte Frankie mir Geschichten über Wyldcliffe erzählt, die sie von ihrer Mutter gehört hatte, Geschichten über die wilden Moors mit ihren einsamen Höfen und dem schroffen Himmel des Nordens. Ich hatte dieses Wyldcliffe bisher noch nie gesehen, aber jetzt war ich fast da. Ich steckte meine Zeitschrift und meine Kopfh?rer weg und blinzelte durch das Fenster hinaus ins Halbdunkel.
Eine halbe Stunde später fuhr der Zug in einen kleinen Bahnhof am Anfang eines tiefen, dunklen Tals ein. Während ich mein Gepäck in ein verbeultes altes Taxi wuchtete, peitschte mir der Wind eine Ladung Regen entgegen. »Nach Wyldcliffe, bitte«, sagte ich, und wir fuhren los. Ich versuchte, mit dem triefäugigen Taxifahrer eine Unterhaltung anzufangen, aber seine Antwort war kaum mehr als ein Grunzen, und so fuhren wir schweigend weiter.
Zwischen den Wolken erhaschte ich einen Blick auf die Sonne, die wie eine Blutspur hinter den Moors versank. Der bleierne Himmel schien sich schwer auf das Land zu legen. Ich hatte bisher immer nur am offenen Meer gelebt und fühlte mich inmitten dieser dunklen Hügel seltsam eingeengt. Trotz meiner mutigen Worte kam ich mir plötzlich furchtbar klein und allein vor. Es war wirklich dumm von mir gewesen, dass ich mich nicht hatte von Dad begleiten lassen … dann bog das Auto um eine Ecke, und der Kirchturm und die grauen Steingebäude von Wyldcliffe gerieten endlich in Sicht.
Der Fahrer hielt das Auto auf der regennassen, schwarzen Straße direkt vor einem winzigen Kramladen an. »Wohin genau?«, knurrte er.
»Zum Kloster«, erwiderte ich. »Zur Abteischule Wyldcliffe. «
Er drehte den Kopf zu mir herum und starrte mich finster an. »Zu diesem verfluchten Ort werde ich dich ganz sicher nicht bringen«, knurrte er. »Du kannst aussteigen und zu Fuß
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