Miles Flint 05 - Paloma
bestünde er aus Flüssigkeit, nicht aus Fasern.
Nyquist sah sich über die Schulter um, entweder, um sich zu vergewissern, dass Flint ihm noch folgte, oder um seine Reaktion zu beobachten.
Oder beides.
Flint beschloss, keine neutrale Miene zu wahren. Manchmal erschien auch ein Mangel an Reaktion verdächtig. Er atmete tief durch den Mund ein und empfand plötzlich große Übelkeit – nicht, weil er dem Tatort eines Mordes nicht gewachsen war; das war er. Er hatte schon Dutzende gesehen – aber Paloma war irgendwie in diese Sauerei verwickelt.
Paloma selbst hatte er noch nicht gesehen. Außer den Polizisten hatte er noch niemanden gesehen. Er hatte nicht einmal eine Leiche gesehen, obwohl hier offensichtlich jemand zu Tode gekommen war.
Nyquist trat auf einen gekennzeichneten Bereich vor Palomas Wohnungstür. Die Tür, die normalerweise unsichtbar in die Wand des Korridors eingelassen war, stand offen und gab den Blick auf eine weiße Wand und antike Sammlerstücke frei – alles zweidimensionale Fotografien des Mondes, einige aufgenommen während der frühesten Missionen, die hierher unternommen worden waren.
Nur, dass die Wand nicht mehr weiß war. Mehr Blutspritzer, manche bogenförmig, zogen sich über die Wand, die Fotos, die Sockelleisten.
Flint hielt den Atem an. Zwang sich dann, auszuatmen.
Wieder schaute Nyquist ihn an, ein fragender Blick, einer, der herauszufinden suchte, ob mit Flint noch alles in Ordnung war. Flint nickte. Er war dem gewachsen. Er hatte einst den zerschlagenen, blutigen und beinahe unkenntlichen Leib seiner toten kleinen Tochter gehalten.
Er war allem gewachsen.
Nyquist ging um die Ecke in den Hauptteil des Wohnzimmers, und Flint folgte. Die Fenster in der Wohnung waren offen, die Mondlandschaft erstmals sichtbar, wenngleich sie irgendwie flacher aussah als in anderen Bereichen des Gebäudes, beinahe, als würden die Fenster ihr eine Dimension rauben. Nichts störte den Ausblick – kein Blut, keine anderen Flüssigkeiten – und Flint verweilte für einen kleinen Augenblick bei dem Ausblick, ehe er alles andere betrachtete.
Die umgekippte Couch, der umgeworfene Lehnsessel, die zerschmetterten Tische. Das Loch in der Wand zur Küche. Der Handabdruck – blutbefleckt und plastisch – auf einer Seite des bogenförmigen Durchgangs zur Küche. Das zerschlagene Serviertablett, das immer noch zu fliegen versuchte, während sein Inhalt auf dem Teppich verstreut war. Die umgekippten Becher, die geborstenen Teegefäße, das zerbröselte Teegebäck.
Mit Verspätung strich Flint über seinen Handrücken, damit die in seine Haut eingebetteten Kameras die Szenerie aufnahmen. Er brauchte eine Aufzeichnung von all dem.
Nyquist betrachtete ihn, nicht das Zimmer. Nyquist hatte das alles schon gesehen.
Er wartete, er wartete darauf, dass Flint etwas sah, jene eine Sache, die Flint nicht anschaute, die er aber bemerkt hatte, nur knapp, nur aus dem Augenwinkel …
Die Leiche, die schrumpelig und geknickt als zusammengesunkener Haufen vor der Mondlandschaft und der braunen Wand kauerte.
Flint tat einen beruhigenden Atemzug und drehte sich leicht, zwang sich, hinzusehen.
Schrumpelig war das falsche Wort. Geknickt auch. Zerschmettert passte besser. Vernichtet. Unrettbar zerstört.
Ihr weißes Haar war blutgetränkt. Ihr Gesicht, normalerweise so lebendig, sah aus wie ein Totenschädel, über den sich die Haut spannte. Ihr Kiefer war zertrümmert, und ihre Zähne verteilten sich wie Kieselsteine über den Boden.
Flint zwang sich, still stehen zu bleiben, obwohl er zu ihr wollte. Sie berühren wollte, sich vergewissern wollte, dass sie es wirklich war.
Paloma war so stark gewesen. Sie hatte die Grundlage zu seinem neuen Leben geliefert, eine unbeugsame Frau, die alles tun konnte, was sie wollte.
Obwohl sie zugleich von jeher zerbrechlich ausgesehen hatte.
Aber sie war härter gewesen, als sie aussah. Einmal hatte sie ihn in einen Polizeigriff genommen, der ihm beinahe den Arm ausgekugelt hätte. Sie hatte ihn gegen eine Wand gedrückt und ihm das Gesicht so übel zugerichtet, dass er ein Reparaturzeug hatte benutzen müssen, um sich überhaupt in der Öffentlichkeit zeigen zu können.
Sie hatte sich mit Außerirdischen angelegt und gesiegt, hatte mit der Regierung gekämpft und gesiegt, hatte sich mit etlichen Wirtschaftsgrößen herumgeschlagen und gesiegt.
Sie hatte mehr Feinde als jeder andere Mensch, der ihm in den Sinn kam.
Und er hatte sie geliebt.
Das war ihm bis jetzt nie
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