Militärmusik - Roman
Jungdramaturgen erledigen. Die aktuelle Produktion des Majakowski-Theaters war damals gerade das schon erwähnte Politdrama »In Santiago regnet es«.
Die Proben fanden jeden Tag statt, manchmal sogar in Anwesenheit des Autors, des berühmten Politologen. Jedes Mal brachte dieser Mann eine unmöglich ernsthafte Stimmung ins Spiel. Er ging allen auf die Nerven, vor allem dem Chef. Der Politologe gab ihm ständig Ratschläge, wie man am besten diese oder jene Szene gestalten sollte, außerdem erklärte er den Schauspielern immer wieder die politische Situation in Chile. Unseren Allende fand er zu dick, der Pinochet sollte sich seiner Meinung nach anders bewegen und überhaupt gefährlicher wirken.
»Er läuft wie eine Hure über die Bühne, als ob er Allende von hinten bedienen will«, regte sich der Politologe auf. Er ahnte nicht, wie nahe seine Wörter der Wahrheit kamen. Der einäugige bisexuelle Pinochet war nämlich schon seit Jahren hinter dem glücklich verheirateten Schauspieler X her, aber bisher immer vergeblich. Nun waren die beiden endlich zusammen auf der Bühne, und Allende musste tierisch aufpassen.
Die Arbeit an dem Stück ging nicht voran. Dafür gab es viele Gründe: Die Waffen, die extra für die Inszenierung von den Kollegen aus dem Moskauer Filmstudio ausgeliehen und ins Haus gebracht worden waren, verschwanden. Viele Techniker benahmen sich wie die Kinder, als sie die Kalaschnikows herumliegen sahen, obwohl allen Maschinengewehren der Lauf versiegelt und sie zum Schießen nicht mehr zu gebrauchen waren. Überall stieß man im Theater auf Bewaffnete, sie sprangen aus den Ecken hervor, um ihren Kollegen Angst zu machen.
Auch die Schauspieler nahmen das Politdrama »In Santiago regnet es« nicht sonderlich ernst. Jedes Mal, wenn der Politologe das Theater verließ, brach das Ensemble in Lachen aus. Zuerst lachte der Chef noch herzlich mit, doch dann begriff er, dass die Inszenierung außer Kontrolle geraten war und sich langsam in eine alberne Komödie verwandelte. Daraufhin bekamen alle Santiago-Mitwirkenden ein Lachverbot. Alle Waffen, sogar das harmlose Messer von Pinochet, kamen in eine Waffenkammer, die extra für die Produktion eingerichtet wurde.
»Wenn ich noch einmal einen einzigen Witz über den Chile-Regen höre, landet der Verantwortliche sofort bei Herrn Stein im Ballettraum. Aus jedem Komiker mache ich einen Aerobicer«, kündigte der Chef an.
Damit es allen klar wurde, wie ernst ihm die Sache war, statuierte er auch gleich ein Exempel. Und ausgerechnet ich, das Aschenputtel der Produktion, war das Opfer. Der Politologe erschien zwei Wochen lang nicht zu den Proben, und wir dachten schon naiv, er hätte gekündigt. Doch eines Tages war er wieder da. Der Chef ordnete sofort eine Rauchpause an, die Schauspieler kamen von der Bühne runter. Ich brachte für alle Kaffee. Unser Gast erzählte, er sei gerade in wichtiger Mission in Lateinamerika unterwegs gewesen. »Hoffentlich regnete es dort nicht wieder«, rutschte es mir plötzlich von der Zunge. Die Schauspieler kicherten, der Politologe hatte es, glaube ich, gar nicht verstanden, zumindest ließ er sich nichts anmerken. Der Chef wurde dagegen rot vor Zorn.
Bereits am nächsten Tag landete ich bei Stein, jedoch nicht als Teilnehmer seines Workshops, sondern als seine Aushilfe. Stein war damals 36, für einen Achtzehnjährigen also ein alter Mann. Innerlich imponierten mir seine Rücksichtslosigkeit, seine Radikalität im Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst. Er nannte alles beim Namen, hatte vor nichts Angst, fand den Sozialismus zum Kotzen und machte daraus kein Geheimnis. Außerdem konnte er sehr gut tanzen, spielte alle möglichen Instrumente und schrieb lustige Gedichte, die er immer wieder gerne vortrug.
Wir kamen gut miteinander aus. Zweimal in der Woche drückte er mir die Autoschlüssel von seinem weißen Mercedes in die Hand, den er vor dem Theater geparkt hatte. Ich musste die neuesten Schallplatten mit Aerobic-Musik aus dem Kofferraum holen. Langsam schlenderte ich aus dem Theater raus zum Wagen, öffnete die Vordertür, setzte mich eine Weile ans Lenkrad und tat so, als ob ich meine Zigaretten in der Schublade suchte. Die zahlreichen Mädchen, die Tag und Nacht vor dem Theater standen, bekamen bei diesem Anblick einen Schluckauf: Der junge angehende Star und sein geiles Auto. Ich zündete mir langsam eine Zigarette an, stieg wieder aus und öffnete mit einer coolen Bewegung den Kofferraum. Dort lagen in
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