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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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wieder keine. Jedes Mal wenn die Glatze die Macht übernahm, gab es einen Knall, und alles veränderte sich. Ging die Glatze, wurde alles wieder wie früher. Die Zeit des Intourist-Hotels war die Zeit der Hoffnung auf eine neue Glatze, auf Veränderung. Als Gorbatschow zum ersten Mal im Fernsehen auftrat, freute sich das Volk, denn er hatte eine prächtige Glatze. Neue Zeiten brachen an. Die reichen Ausländer weideten nun nicht mehr nur auf dem Roten Platz, sie waren überall. Einmal kamen sie sogar in unsere Theaterschule.
    »Wir sind auf diesen Besuch gut vorbereitet«, meinte der Direktor zu uns, »es fehlt nur noch das Toilettenpapier auf dem Klo. Aber dafür habe ich auch schon eine Lösung gefunden.«
    Er sammelte die dreieckigen Servietten in der Kantine ein, wo sie jahrelang unbenutzt in Plastikbechern auf den Tischen gestanden hatten, und verteilte sie in den Klokabinen. Nach dem Empfang der Ausländer brachte der Direktor die Servietten wieder in die Kantine zurück, wo er sie sorgfältig auf den Tischen verteilte.
    Noch während der Ausbildung fingen viele von uns an zu arbeiten, und auch ich bekam im dritten Semester meinen ersten eigenen Auftrag: Ich sollte für das Silvesterfest im Iljitsch-Kulturhaus ein Stück mit Väterchen Frost und Schneewittchen in den Hauptrollen schreiben. Und 500 Rubel bar auf die Hand. Das war eine Menge Geld. Und danach ging es weiter und weiter mit Stadtfesten, Pionierlager-Kulturprogrammen... Ich arbeitete vier Monate im einen Theater, dann zwei in einem anderen... Das Wichtigste in diesem Job war nicht das Geld. Damit konnte man bei uns sowieso nicht viel anfangen. Es ging eher um die eigene Courage und um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, zur Bohème: Berufshochstapler, Menschen mit mehrdeutigen Biografien und Künstlernamen, die zwischen avantgardistischen Kinozeitschriften, Volksfesten, Dissidentenliteraturen und dem KGB-Verlag »Das Politische Buch« pendelten und von allem etwas hatten. Obwohl jung, brachte ich es schnell fertig, alles Negative, was ein Bürger der Sowjetunion nur anstellen konnte, zu akkumulieren. Ich war kein richtiger Russe, weil in meinem Pass »Jude« stand, nicht Komsomolze, ein wenig Hippie und ein passiver Dissident. Ich trank Alkohol mit Unbekannten und versuchte, wenn sich die Möglichkeit ergab, schwarz Geld zu verdienen. Wie viele meiner Freunde hatte auch ich mehrere Auseinandersetzungen mit Organen des Ordnungsdienstes, und in dem so genannten »Schwarzen Buch« der Jugendabteilung des KGB war ich auch registriert.
    Alles in allem: kein schlechter Beginn.

Tiertransport
    Die Achtzigerjahre begannen mit dem Olympiajahr in Moskau. Trotz des Boykotts vieler westlicher Länder wollte der damalige Generalsekretär Leonid Breschnew unbedingt verhindern, dass das Ganze zu einer bloßen Propagandaschau wurde. Aus den Olympischen Spielen sollte eine große kulturpolitische Veranstaltung werden. Moskau wurde gründlich von Schmarotzern aller Art gesäubert und neue elektronische Anzeigetafeln für die Stadien über pakistanische Strohfirmen von den Amerikanern gekauft. In der Stadt lief nichts. Keine Underground-Konzerte, keine Versammlungen, keine Demonstrationen. Überall Polizisten in Zivil und Polizisten in Uniform. Artillerie und Kavallerie. Ich bekam eine Vorladung von der Jugendabteilung des Sicherheitsdienstes. Der Beamte kannte mich und ich ihn auch. Es sei ihm bekannt, dass ich mich für Sport nicht so interessieren würde, meinte er, es wäre deswegen für alle besser, wenn ich für einige Zeit die Stadt verließe. Als freundliche Geste bot er mir sogar an, mich im Polizeiwagen zu einem Bahnhof meiner Wahl fahren zu lassen. Abgemacht, ich wollte nach Riga.
    Unterwegs zum Rischjski-Bahnhof erzählte mir der Fahrer, ein Leutnant der Miliz, von einer geheimen Fabrik, die im Auftrag der Regierung für die Zeit der Olympischen Spiele russisches Pepsi-Cola produziere. Ich zweifelte an seiner Geschichte, daraufhin schwor er, zu Hause bereits eine ganze Kiste von dem Zeug zu haben. Wir machten einen Umweg und schauten bei ihm zu Hause vorbei. Die Kiste war tatsächlich da. Er schenkte mir eine Flasche mit dem Zaubertrank, damit auch ich ein bisschen von den Olympischen Spielen profitierte.
    Der Rischjski-Bahnhof wirkte so leer, als ob man bereits halb Moskau deportiert hätte. Im Zug trank ich die russische Pepsi-Cola aus. Sie roch nach Wochenende, nach den süßen Wonnen des kapitalistischen Zerfalls, nach Amerika. Die leere

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