Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
Vom Netzwerk:
unmöglich, wie viel Flüssigkeit so ein kleiner Mann in sich hatte. Auf der Lichtbrücke waren wir für den Ordnungsdienst schwer erreichbar, daher konnten wir verschwinden, bevor sie zu uns vordrangen. Hinterher wollte keiner glauben, dass Stein ganz allein so lange von der Lichtbrücke pinkeln konnte. Für alle war ich automatisch mitbeteiligt. Das Kulturministerium beharrte auf einer zionistischen Verschwörung im Majakowski-Theater, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die sowjetischen Kulturpolitik öffentlich verächtlich zu machen. Radio Stockholm berichtete über den Vorfall und bemerkte, dass die Aktionskunst in Russland sich immer mehr politisiere. Im Theater fand ein so genanntes Kameradschaftsgericht statt. Stein wurde »unmenschliches Verhalten in der Öffentlichkeit« vorgeworfen, mir unterstellte man Beihilfe. Diese Geschichte hätte für uns schlimm ausgehen können, aber der Chef schaffte es, alle von der Harmlosigkeit unserer Verschwörung zu überzeugen, und verbürgte sich sogar für uns. Stein drohte dennoch der Knast, weil er bereits vorbestraft war.
    Aber dann bestätigte sich die Voraussage des KGB-Mannes: Stein verschwand aus dem Majakowski-Theater und tauchte wenig später in der Provinz wieder auf. In einem Theater in Saratow durfte er seine Arbeit als Choreograph fortsetzen. Ich verlor dagegen meinen tollen Praktikumsplatz und bekam noch zusätzlich eine zweistündige Belehrung durch die Mitarbeiter der Jugendabteilung des KGB aufgebrummt. Anschließend wollten sie von mir unbedingt wissen, ob ich eher dem Faschismus zugeneigt sei oder der Homosexualität.
    Inzwischen hatten alle Studenten in meiner Schule ihr Praktikum abgeschlossen, und ich stellte erstaunt fest: Während ich leichtsinnig das Theaterleben genossen und mit Stein »Den weißen Storch« im Restaurant »Schauspieler« gekostet hatte, hatten meine Kommilitonen richtig Geld verdient. In meiner Studentengruppe galt ich als zurückgeblieben. Mit achtzehn Jahren hatte ich noch nicht einmal einen Dollarschein aus der Nähe gesehen. Selbst die Rubelscheine ließen sich nicht jeden Tag bei mir blicken, von ausländischen Währungen ganz zu schweigen. Viele meiner Kommilitonen hatten dagegen längst Dollarscheine in der Tasche, einige konnten sich damit den Arsch abwischen, so reich waren sie.
    Viele Studenten gingen jeden Tag Ausländer melken. Mitte der Achtzigerjahre weideten die reichen Touristen aus dem Westen in großen Herden zwischen dem Roten Platz und dem Intourist Hotel und wollten ihr Geld in Rubel umtauschen. Das nutzten meine Freunde aus. Am leichtesten ließen sich die Japaner melken. Denen konnte man unter Umständen sogar jugoslawische Dinare statt Rubel andrehen. Damit erhöhte sich der Gewinn gleich um hundert Prozent. Auf den Dinar-Scheinen war das Gesicht von Tito abgebildet. Der eine oder andere Japaner zeigte auf ihn und fragte, wer das sein solle. Ohne mit der Wimper zu zucken behaupteten die Unseren, dies sei Lenin. Manchmal wurde ein Japaner misstrauisch und meinte, der Mann auf dem Geldschein sei einfach zu jung, um ein Lenin zu sein. »Achtung vor Lenin«, verlangte der Verkäufer, »er hat hart gekämpft und ist jung gestorben.«
    Dieses Argument wirkte immer sehr überzeugend auf die vorsichtigen Japaner, sie nahmen die Dinare und gingen über den Roten Platz in irgendwelche Läden, um das Geld auszugeben. Alle Eiscreme- und Boulettenverkäufer in der Umgebung des Intourist-Hotels wussten von der Verarsche und lachten sich jedes Mal halb tot, wenn sie einen neuen Japaner mit einem 100-Dinar-Schein sahen.
    Die Amerikaner waren dagegen sehr zickig, selbst echte Rubelscheine kamen ihnen verdächtig vor. Auf den russischen Banknoten von 10 bis 100 Rubel war immer nur ein einziger Mensch abgebildet – Lenin. Aber in verschiedenen Abschnitten seines ruhmreichen Lebens. Je größer die Scheine, desto älter war der Lenin darauf.
    »Warum hat Lenin hier lange Haare?«, schikanierten uns die Amerikaner, wenn sie einen Hunderter sahen. Jedes Kind in Amerika wusste schließlich, dass Lenin von Kindheit an eine Glatze getragen hatte. Aber das, was die Amerikaner für Lenins Haare hielten, waren in Wirklichkeit zu fett gedruckte Wasserzeichen, die sich wie Locken um Lenins Kopf gelegt hatten.
    Überhaupt signalisierte die Glatze in Russland schon immer einen gesellschaftlichen Umbruch, eine Revolution, und jeder zweite Herrscher hatte eine. So wechselten sie sich ab: Glatze, keine Glatze, dann wieder Glatze, dann

Weitere Kostenlose Bücher