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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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haben musste, ja, sogar noch besser als er. Ich schlug mir mit der Faust auf die Brust und fand mich ziemlich überzeugend. Trotzdem haben sie mich entlarvt. Ein alter Professor sagte laut: »Nun seien Sie nicht albern, junger Freund. So eine Scheiße hätte Majakowski nie in seinem Leben geschrieben.«
    Wenn ich jetzt, nach über zwanzig Jahren, zurückblicke, muss ich dem Professor Recht geben. Es war ein pathetisch überzogenes, scheußliches Gedicht. Aber ich bin nun mal kein Dichter. Doch damals war es für mich ziemlich dramatisch. Und unser Schuldirektor bekam einen Riesenanschiss. Er war stinksauer, dass seine Dummheit zum Vorschein gekommen war, und weigerte sich, mich in die neunte Klasse zu versetzen. Ich flog von der Schule.
    »Was willst du eigentlich werden?«, fragten mich daraufhin meine Eltern.
    »Schauspieler«, sagte ich jedes Mal.
    Mit dieser Antwort gelang es mir, vorläufig weitere Diskussionen über meine Zukunftspläne zu vermeiden.
    Unser Haus befand sich am Rande der Stadt. Aus dem Fenster blickte man auf die Rublewskojer Chaussee, die eigentliche Stadtgrenze. Dahinter begann schon der Wald, der dort Pawlow-Park hieß, zu Ehren des Verhaltensforschers Pawlow, nach dem man im Übrigen auch unsere Straße benannt hatte. Dort im Park stand ein merkwürdiges Denkmal, das in der Dunkelheit alte Frauen und Säufer erschreckte: ein riesengroßer Hund aus Bronze, im Volksmund »Baskerville« genannt. Der mir unbekannte Bildhauer hatte ihn zu Ehren des pawlowschen Hundes geschaffen, der ungeheuerliche Leiden am eigenen Leib hatte erdulden müssen, um die Reflextheorie des Akademikers zu bestätigen. Doch mit seiner Größe und dem Gesichtsausdruck hatte der Bildhauer eindeutig übertrieben.
    Auf dem Platz vor dem Denkmal versammelten sich die Jugendlichen unseres Wohnviertels, um Tischtennis zu spielen. »Wir treffen uns am Hund«, hieß es immer. Anschließend liefen wir meistens runter zum Moskausee. Dort hatten wir sogar einen kleinen geheimen Strand. Auf der anderen Seite des Sees wohnte niemand. Es gab dort nur Kartoffelfelder bis zum Horizont sowie eine verlassene, aber immer noch stark nach Scheiße riechende Geflügelfarm und eine im Krieg zerbombte Kirche. Die Omas in unserem Haus erzählten, ein Flugzeug sei auf die Kirche gestürzt und dadurch wären die ganzen dort gelagerten Kartoffelvorräte verbrannt.
    In jenem Sommer wurde ich fünfzehn. Ich hatte nichts zu tun und hing den ganzen Tag im Pawlow-Park herum oder saß am Ufer des Moskausees. Doch die Frage, die mir meine Eltern immer wieder mal stellten, betrübte mich. In Wahrheit wollte ich gar kein Schauspieler werden. Ich wollte mich verlieben und ewig am Strand liegen.
    Jedes Mal, wenn ich an dem gelben Irrenhaus vorbeilief, betrachtete ich neidisch die Mongoloiden. Mir schien, dass ich ihr Geheimnis durchschaut hatte. Sie werden niemals gefragt: »Was willst du denn mal werden, Junge?« Sie waren nämlich schon was – und mussten dafür überhaupt nichts tun. Dort hinter dem Zaun, auf ihren von Pflegern bewachten Veranden, waren sie freier als wir draußen. Sie mussten nicht, wie ich zum Beispiel, lügen und allen erzählen, sie wären gerne Schauspieler. Mehrmals verwickelte ich die Mongoloiden in Gespräche, wenn sie abends in der Dämmerung vor dem Tor ihrer Anstalt standen und Vorbeigehende anmachten. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass sie gar nicht dumm waren, im Gegenteil, und dass sie sich ihrer Freiheit vollkommen bewusst waren. Sie kultivierten sogar noch ihre Krankheit, um dadurch ihre Freiheit zu schützen. Gegen bestimmte Dinge hatten sie eine starke Abneigung, wie beispielsweise gegen das Schreiben. Dafür durften sie aber alles laut sagen, was sie dachten. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie meine Eltern reagieren würden, wenn ich das nächste Mal auf ihre Frage nicht »Schauspieler«, sondern »Mongoloide« antwortete.
    Mein Vater, der sich mit zwanzig Jahren unglaublich anstrengen musste, um aus seinem kleinen ukrainischen Nest nach Moskau zu kommen, konnte nicht verstehen, wie ein Junge in meinem Alter keine großen Ziele haben konnte und keine Herausforderungen suchte. Er selbst ging gleich nach der Schule in eine Konservenfabrik, der einzigen Fabrik in der Kleinstadt. Er sortierte dort zwei Jahre lang Konservendosen für Tomaten – ohne Aussichten auf ein Weiterkommen. Die einzige Chance für meinen Vater, aus seinem Leben etwas Besseres zu machen, war, in die Hauptstadt zu ziehen und einen richtigen

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