Der Seelenfänger (German Edition)
1 Der Junge, der Magie erkennen konnte
Der Tag, an dem Sascha merkte, dass er Magie erkennen konnte, war der schlimmste Tag seines Lebens.
Alles begann an einem ganz gewöhnlichen Freitagnachmittag – wenn man Freitagnachmittage in der Hester Street überhaupt gewöhnlich nennen konnte.
Es hieß, auf der New Yorker Lower East Side würden mehr Menschen pro Quadratkilometer leben als im Schwarzen Loch von Kalkutta, und Sascha glaubte das gern. Der Lärm dieser Menschenmasse war wie die mächtige Brandung eines Ozeans. Man hörte sie arbeiten und essen, reden und beten, und dazu surrten von morgens bis abends die Nähmaschinen aus den Fenstern der Mietskasernen. Über den Pflastersteinen knisterten die Träume all dieser Menschen wie die Elektrizität in den großen Transformatoren des nach Thomas Edison benannten Kraftwerks in der Pearl Street. Und man spürte die statische Aufladung ihrer Zauberkräfte, ganz gleich, ob sie zur weißen oder zur schwarzen Magie gehörten.Nicht, dass sich an einem Freitagnachmittag um halb fünf irgendjemand über illegale Magie den Kopf zerbrochen hätte. Freitagnachmittags ging es in der Hester Street nur um eines: einkaufen.
Von den East River Docks bis zur Bowery drängten sich die Marktkarren auf dem Straßenpflaster. Dazwischen wimmelte es von Hausfrauen, die unbedingt vor Sonnenuntergang noch ihre
Schabbes
-Einkäufe erledigen wollten. Händler pflügten wie Haie durch die Menge, um mit schmeichelnden Worten oder Ärmelzupfen Kunden in ihre Läden im Kellergeschoss der Häuser zu ziehen. Andere, die drei Tage altes Brot oder Waren aus Bauchläden feilboten, machten sich gegenseitig den Platz in der Gosse streitig. Jeder schrie aus voller Kehle, dass seine Ware die billigste, schmackhafteste und bekömmlichste sei.
Bis die ganze Lower East Side für den
Schabbes
-Feierabend schloss, mussten alle Lebensmittel verkauft sein. Danach machten am Sonntag auch alle Läden in der City dicht, damit die
Gojim
für den Kirchgang nüchtern blieben. Der Händler aber, dem noch Reste für den Verkauf am Montag übrig geblieben waren, konnte die Sachen gleich wegwerfen, denn nie und nimmer würde eine jüdische Hausfrau ihrer Familie drei Tage alte Ware vorsetzen.
An den meisten Freitagen kam Saschas Mutter nach Arbeitsschluss in der Pentacle-Textilfabrik grade noch rechtzeitig heim, um sich die Ersparnisse der Woche aus der Sparbüchse hinter dem Ofen zu schnappen und wieder nach draußen zu stürzen.
Dann ging der Wahnsinn richtig los.
Man sollte meinen, dass einer Frau, die binnen einer halben Stunde die Lebensmitteleinkäufe für drei Tage erledigen muss, keine Zeit zum Feilschen bliebe. Wer so dachte, kannte Ruthie Kessler schlecht. Saschas Mutter ging einkaufen, wie ein General in die Schlacht zieht. Ihre Waffen waren ein ramponierter Einkaufskorb, ein flinkes Mundwerk und eine Handvoll Pennys. Ihre Kinder aber waren die Infanterie.
Sascha und seine ältere Schwester Beka liefen die Hester Street hinauf und hinunter, vorbei an Ellbogen und Knien und stets auf der Hut vor entgegenkommendem Verkehr. Sie traten in jedes Geschäft, blieben an jedem Marktkarren stehen und schauten in jeden Bauchladen. Dann kehrten sie zu ihrer Mutter zurück und erstatteten Bericht über die feindlichen Stellungen. Erst dann gab Mutter Kessler ihre Befehle und verteilte ihr Kleingeld.
»Drei Cent für eine Zwiebel? Das ist
meschugge
! Sag Mr Kaufmann, dass keiner mehr als zwei Cent verlangt!«
»Was heißt hier, du weißt nicht, ob Mrs Liebermanns Tomaten frisch sind? Lauf zurück und drück sie!«
»Schon gut, schon gut! Sag Mr Rabinowitz, dass du ihm den Hering abkaufst. Aber wenn er wie vergangene Woche den Kopf abhackt, schicke ich ihn wieder zurück. Ich kaufe Fisch nur, wenn ich vorher das Weiße der Augen gesehen habe!«
Am heutigen Freitag sah es so aus, als wollten die Einkäufe gar kein Ende nehmen. Aber dann ging die Sonne über der Bowery unter. Das Geschrei ließ nach und die einkaufslustige Menge zerstreute sich nach und nach. Mutter Kessler betrachtete ihre Einkäufe und sah, dass es gut war – jedenfalls so weit eine jüdische
Mame
in dieser sündhaften Welt überhaupt etwas für gut ansehen wollte.
»Mir bleiben noch ein paar Pennys«, sagte sie zu ihren Kindern, als alle drei die überbordenden Einkaufskörbe anhoben und sich mühselig auf den Heimweg machten. »Dafür kaufen wir ein paar
Rugelach
in Mrs Lasskys Bäckerei. Haltet mal kurz an.«
»Nein, nicht für mich«,
Weitere Kostenlose Bücher