Militärmusik - Roman
Papirosse«.
Im Goldwölkchen-Ferienlager gab es keine Unterrichtsstunden, dafür hatten die Jungs einen Fernseher im Aufenthaltsraum und konnten sogar problemlos auf dem Gelände rauchen. Wir mussten dagegen zum Rauchen immer aufs Dach hochklettern. Eine äußerst komplizierte, fast lebensgefährliche und dazu völlig sinnlose Angelegenheit. Ebenso gut hätten wir uns auf dem Klo oder im Wald zum Rauchen verschanzen können. Aber wir wollten die Tradition des Lagers nicht brechen. Seit Generationen waren hier die Jungen Seemänner immer aufs Dach geklettert, um eine durchzuziehen.
Trotz Fußball und Unterricht verliefen unsere Tage ziemlich langweilig. Viele Jungs versteckten sich tagsüber im Schlafraum und schliefen, bis die Sonne untergegangen war. Erst nach dem abendlichen Rückzugsignal wachte das Lager richtig auf. Die Jungen Seemänner kletterten aus den Fenstern und liefen in den Wald. Die Goldwölkchen-Mädchen warteten schon in geheimen Verstecken und gaben den Jungs Morsesignale, die sie von uns schnell gelernt hatten. Wir hatten entdeckt, dass das Morsealphabet nicht nur am Meer, sondern auch im dunklen Wald gut funktionierte, die Signale wiesen uns den richtigen Weg, um die Mädchen zu finden. Bis zum Morgengrauen saßen wir manchmal mit ihnen an einem Lagerfeuer im Wald und erzählten uns Geschichten.
Der Leiter unseres Lagers, Genosse Prostov, den wir einfach »Käpt'n« nannten, war ein pensionierter Taucher und sehr, sehr stolz auf seine Acht-Liter-Lungen. Er hatte ein Volumen-Messgerät in seinem Kabinett, mit dem er täglich seine Lungenkapazität kontrollierte. Manchmal demonstrierte er sie uns, indem er tief Luft holte und dann mit einmal Ausatmen einen Luftballon zum Platzen brachte. Der »Käpt'n« betrachtete seinen Job im Ferienlager als eine Art wohl verdiente Erholung auf Lebenszeit. So reduzierte er seine Anwesenheit im Lager auf das Notwendigste und belästigte uns kaum mit zusätzlichen erzieherischen Maßnahmen. Es war ihm auch völlig egal, ob wir später wirklich zur Binnenflotte gehen wollten oder uns für einen anderen Beruf entschieden hatten. Seine kurzen Ansprachen in den Morgenstunden bestanden hauptsächlich aus »Passt auf euch auf!« und »Macht's gut!«.
In den zwei Monaten, die ich in dem Lager »Junger Seemann« verbrachte, erweiterte sich mein geistiger Horizont erheblich. Und an aufregenden Erlebnissen fehlte es mir auch nicht. Dreimal fiel ich vom Dach runter, einmal verbrannte ich mir die Hand, als wir mit einem geklauten Kanister Benzin versucht hatten, schnell ein Feuer zu entfachen. Außerdem wurde ich mehrmals geschlagen und geküsst. Und ich habe damals zum ersten Mal etwas gelernt, was ich seitdem nicht mehr vergessen kann: Von Chemie und Physik, Mathematik und Geschichte, Majakowski und Englisch ist nichts übrig geblieben, aber das Morsealphabet und die Gedichte meines Vaters sind mir wie ins Gedächtnis eingebrannt.
»Wenn du willst, kann ich dich beim Institut der Binnenflotte anmelden, der Vorsitzende der Aufnahmekommission ist ein Kumpel von mir«, meinte mein Vater, als ich vom Ferienlager im Wald zurück nach Hause kam. »Deine dafür fehlenden zwei Schuljahre könnte man locker auch über die Abendschule abwickeln.«
»Lieber doch Schauspielschule«, antwortete ich herzlos.
Ich hing noch ein halbes Jahr zu Hause rum, bis meine Eltern von mir die Nase voll hatten und mein Schicksal in ihre eigenen Hände nahmen. Dabei kam ihnen der Zufall zu Hilfe, und das kam so: Außer Gedichteschreiben hatte mein Vater noch ein weiteres Hobby, nämlich Telefongespräche mit Unbekannten. Während seiner Arbeitszeit wählte er irgendeine Nummer, und wenn eine Frau den Hörer abnahm, begann er das Gespräch mit dem Satz: »Sie kennen mich nicht, aber ich Sie.«
Damit laberte er die Frauen voll. Eigentlich war sein Hobby absolut harmlos, die meisten Frauen blieben bloß Gesprächspartner. Nur einmal hat sich mein Vater richtig verliebt. Eine Frau mit außergewöhnlich zarter Stimme sang ihm von früh bis spät Volkslieder ins Ohr, und er trug ihr seine fürchterlichen Gedichte vor. Später schickte sie ihm ein Foto von sich. Auf dem Bild war ein junges Mädchen im Bikini zu sehen, sie lächelte schön und winkte verlockend in Richtung des Betrachters – meines Vaters. Er drehte prompt durch, rief sie sofort an und bestand auf einem Treffen. Das Ganze endete ziemlich tragisch, wenn auch komisch zugleich. Die Unbekannte erwies sich als siebzigjährige
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