Militärmusik - Roman
Beruf zu erlernen. Er wollte nach Moskau, um zu studieren, doch damals durfte ein junger Arbeiter in der Provinz noch nicht selbstständig über sein eigenes Schicksal entscheiden. Der Direktor des Tomatenverarbeitungsbetriebes musste ihm eine Zuweisung für die Akademie schreiben, wollte aber nicht so richtig. Er sagte stattdessen zu meinem Vater:
»Viktor, ich würde deinen Wunsch gerne erfüllen und dich nach Moskau schicken, wenn du zuerst mir meinen Wunsch erfüllst. Seit Jahren träume ich von einem Volkstheater in unserem Klub. Die Trunksucht bei unseren Mitarbeitern hat in der letzten Zeit enorm zugenommen und wurde zu einem großen Problem. Die Konservenproduktion sinkt. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass die Arbeiter in unserem Städtchen so gut wie keine Freizeitangebote haben. Sie können nicht in die Oper, haben keine Ahnung vom Ballett. Also sitzen sie im Park und saufen sich zu Tode. Wir müssen mehr Kultur unter die Leute bringen. Du bist jung und schlau, organisier' mir hier ein Kulturensemble, ein Laientheater, und ich werde dich dafür nach Moskau auf die Akademie schicken.«
Mein Vater ging mit voller Kraft an die Arbeit und schaffte innerhalb eines halben Jahres das Unmögliche: Er gründete das Fabrikkabarett »Die Rote Tomate«, das aus ihm selbst und noch zwei Frauen – einer Bibliothekarin und einer Köchin – bestand. Er selbst schrieb die Sketche, las eigene Gedichte vor, moderierte Volksfeste, außerdem sang und tanzte er auf der Bühne wie ein Wilder. Jeden Monat machte er ein lustiges Programm über aktuelle Probleme in der Tomatendosenproduktion.
»Dieser Kaminer«, wunderten sich die Arbeiter in der Fabrik, »das ist ein Spaßvogel, der singt sich noch kaputt.«
Dabei war mein Vater damals alles andere als ein Spaßvogel, er litt unter Schlafstörungen und nahm immer mehr ab. Der Grund dafür war der Direktor, der sein Wort nicht hielt. Zum zwanzigsten Jubiläum der Fabrik veranstaltete mein Vater ein Kabarett zur Krönung seiner beinahe zweijährigen Tätigkeit als »Rote Tomate«-Clown. Das Jubiläumsprogramm wurde ein großer Erfolg. Danach redete mein Vater mit dem Direktor.
»Ach Viktor, mein Herz«, gestand ihm der Direktor offen, »ich würde dir gerne sofort alle Papiere für die Plechanow-Wirtschaftsakademie in die Hand drücken, doch wenn du wegfährst, geht unser wunderbares Theater hier zugrunde. Kurzum: Du musst noch ein paar Jahre bleiben.«
Das war für meinen Vater ein schwerer Schlag. Das Studium an der Plechanow-Akademie entwickelte sich bei ihm zu einer fixen Idee. Sie veränderte ihn auch äußerlich: Mit fünfundzwanzig wurden seine Haare grau. Trotzdem sang und tanzte er auf der Bühne des Klubs immer weiter. Bald bemerkte sogar der Direktor, dass es mit dem Jungen so nicht weitergehen konnte, und er ließ ihn frei. Sieben Jahre lang studierte mein Vater danach Betriebswirtschaft an der Plechanow-Akademie in Moskau – er konnte nicht genug davon kriegen. Mit seinem »roten Diplom«, also mit lauter Bestnoten, bekam er dann gleich eine gute Stelle als Ingenieur in der Planabteilung eines kleinen Betriebs der Binnenschifffahrt. Mit Schwindel erregender Schnelligkeit stieg er dort zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Planwesen auf – eine seltene Kariere für einen parteilosen Jungspezialisten jüdischer Abstammung.
Er heiratete meine Mutter, ich kam auf die Welt. Meine Familie tauschte ihre miserable Einzimmerwohnung im Untergeschoss gegen eine größere Zweizimmerwohnung in einem besseren Moskauer Viertel. Mein Vater kaufte einen Farbfernseher der Marke
Raduga
und eine Matratze mit Seegrasfüllung »Die Stille des Meeres«, ein Prachtstück der sowjetischen Möbelindustrie. Alles lief fantastisch. Doch die psychische Überreizung, die durch seine jahrelange Tätigkeit als Kabarettist wider Willen im Klub der Konservenfabrik entstanden war, ging nicht weg und brachte ihn dazu, sein künstlerisches Tun immer weiter zu treiben. Seine Kollegen fuhren in ihrer Freizeit zum Angeln oder gingen in die Sauna. Mein Vater saß an jedem Wochenende an meinem Schreibtisch und verfasste Liebesgedichte mit obszönem Inhalt. Abends in der Küche las er uns seine Werke vor:
Ihre Lippen und Ihre Augen
Sind wie Kirschen aus Moldawien;
Wenn Sie mir vielleicht erlauben,
Diese Früchte – zu kauen...
Meine Mutter und ich – wir metzelten seine Gedichte nieder, wir lachten ihn aus und appellierten an seine Vernunft, damit aufzuhören. Er solle Schluss machen,
Weitere Kostenlose Bücher