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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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Fiktionen, die Stoffe existierten meist nicht, und alle Daten waren durcheinander gebracht. Trotzdem wurde ich von der Klassenleiterin zum Politinformator ernannt. Jede Woche musste ich nun aus allen möglichen Zeitungen die wichtigsten Nachrichten ausschneiden und sie meinen Klassenkameraden referieren. Ich experimentierte. Ich nahm alte Zeitungen und stellte ein Nachrichtenprogramm zusammen, das aktueller und spannender als das wirkliche war. Keiner merkte was. Meine Politvorträge wurden von den Klassenkameraden mit großer Begeisterung aufgenommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, wie dünn manchmal die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist. Die Zeitungen wurden immer älter, die Politinformationen immer spannender. Am Ende verzichtete ich gänzlich auf die Zeitungen, und stellte das Nachrichtenprogramm aus freien Erfindungen zusammen.
    Ich war von dieser Arbeit so hingerissen, dass ich nicht richtig aufpasste. Nachdem laut nur mir vorliegenden Informationen Simbabwe Russland den Krieg erklärt hatte, flog die ganze Sache auf, und mir wurde daraufhin der Eintritt in den Komsomol verweigert.
    In der siebten Klasse beschloss ich, mit dem Rauchen anzufangen. Ich klaute mir eine Schachtel
Java
aus dem Schreibtisch meines Vaters und ging mit einem Freund in den Wald. Als wir am »gelben Haus« vorbeikamen, hielten uns zwei kleine Mongoloide an, die draußen vor dem Tor standen. Sie baten uns um eine Zigarette. Mein Freund holte die Schachtel aus der Tasche und fragte ganz naiv: »Ist euch eigentlich das Rauchen erlaubt?« Einer der Mongoloiden steckte die Zigarette in den Mund, blickte mir tief in die Augen und sagte mit überraschend tiefer Stimme: »Uns ist alles erlaubt.« Ich machte mir vor Angst fast in die Hose, so wahr klang er. Damals merkte ich, wie ungerecht unsere Gesellschaft war: Was den einen erlaubt war, durften die anderen noch lange nicht.
    Ich erzählte und erzählte. Der eine war begeistert, den anderen machten meine Geschichten wütend, immerhin – alle hörten aufmerksam zu. Ich wurde zum größten Spinner der Schule. Gleichzeitig entwickelte ich eine weitere Besonderheit: die absolute Unfähigkeit, etwas Solides zu lernen. Alle Informationen, die ich mitbekam, drehte ich unwillkürlich um und machte daraus immer neue Geschichten. In Literatur hatte ich stets die besten Noten, obwohl mich die so genannte »Literatur« als Fach gar nicht interessierte.
    Beim Schulaufsatz hatten wir normalerweise drei Themen zur Auswahl. Zwei literarische, in der Art von »Pechorin als überflüssiger Mensch«, und eine politische: »Der Komsomol als zuverlässiger Helfer der Kommunistischen Partei« beispielsweise. Diese Ordnung existierte seit Dutzenden von Jahren. Das musste so sein, und alle wussten es. Im Traum wäre es niemandem eingefallen, ein politisches Thema zu wählen. Außer mir. Genau genommen habe ich nur diese Themen bearbeitet. Dafür hasste mich natürlich die Literaturlehrerin, eine Nette, wenn ich mich jetzt so recht an sie erinnere. Sie empfand mein Handeln als persönliche Beleidigung, doch für mich war es viel interessanter, über nichtexistierende Dinge zu schreiben als über das bereits durchgekaute und unveränderbare Material der klassischen russischen Literatur. Ich versuchte die leeren Begriffe wie »Partei«, »Komsomol« oder »Frühling« mit ein bisschen Leben zu füllen, das machte mir Spaß. Meine Schulkameraden dachten, ich sei antisowjetisch und lachten herzlich über meine Komsomol-Besinnungsaufsätze, dabei war ich total unpolitisch und der Einzige in der Klasse, der nicht zum Komsomol gehörte. Die Literaturlehrerin sagte zu mir: »Sie bekommen eine fünf (die beste Note bei uns) für ihren Aufsatz ‘Die Befreiung Europas durch die Rote Armee 1944–45’. Aber damit das klar ist: Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie finden es komisch, anders zu schreiben, als Sie denken, Sie junger Zyniker!«
    Ich war aber eher ein Romantiker. In der achten Klasse bekam ich bei einem Wettbewerb »Schüler lesen Majakowski« den ersten Preis. Ich trat bei diesem Wettbewerb mit einem selbst geschriebenen Gedicht auf, das ich als einen frühen Majakowski ausgegeben hatte, und zwar aus seiner Gesamtausgabe, die es so richtig jedoch nicht gab. Der Direktor schickte mich anschließend sogar zur Stadtolympiade. Dort in der Jury saßen keine Anfänger, sondern lauter große Spezialisten. Ich brüllte und zischte auf der Bühne, genauso wie Majakowski es in meiner Vorstellung getan

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