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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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malen. Zwei Wochen quälten wir uns mit dem Auftrag. Wir waren uns nicht einig, wo und wie wir anfangen sollten. Grischa, der mit der Theorie der zeitgenössischen Malerei vertraut war, sah unsere Rettung in der abstrakten Kunst. Ich positionierte mich als Vertreter des Realismus, und Andrej, der unbedingt mit dem Kopf des Soldaten anfangen wollte, erwies sich als Anhänger der naiven Malerei.
    Eines Nachts saßen wir wieder auf dem Heizungsrohr im Toilettenraum und führten unsere endlose Diskussion über Kunst fort. Plötzlich erblickte ich eine nackte Frau, die sehr gekonnt mit einer Bleistiftmine an die Toilettenwand gezeichnet war.
    »So etwas Realistisches, beinahe Erotisches muss es werden«, sagte ich. Die Rettungsidee ging uns allen gleichzeitig durch den Kopf: Der Mann aus Afghanistan, Kochubei, war doch derjenige, der alle Onanisten unserer Einheit mit Porträts von nackten Frauen belieferte. Ob er aber auch einen Soldaten zeichnen konnte? Noch in derselben Nacht suchten wir Kochubei auf. Er stand wie immer Wache unter seinem Baum. »Kannst du uns einen Soldaten malen?«, fragte ihn Andrej. Er konnte, wollte aber nicht. Andrej ging in die Waffenkammer: Wir mussten erst etwas Druck auf Kochubei ausüben, bis er so nett war, uns einen Riesensoldaten zu zeichnen. Zwei Schachteln mit Bleistiftminen besorgten wir für ihn. Danach mussten wir das Bild nur noch mit grüner Farbe ausmalen, die Platten aneinander nageln und das Kunstwerk am richtigen Ort aufstellen. Der Mann auf dem Plakat sah zwar aus der Nähe wie ein grüner schmutziger Fleck aus, von weitem aber wie ein richtiger, knackiger Soldat. Und wenn man ganz genau hinguckte, strahlte er auch noch Freude und Optimismus aus. Die militärische Stärke, die er symbolisieren sollte, war mit ein bisschen Fantasie auch nicht zu übersehen. Als der Oberst diese Frucht unserer Arbeit sah, kriegte er sofort einen Ständer. Wortkarg und streng wie er war, machte er ungern Komplimente und suchte immer zuerst die Mängel. Er kniff ein Auge zu und sah sich das Kunstwerk lange und genau an.
    »Warum hat der Soldat nur vier Finger an der rechten Hand?«, fragte er schließlich.
    »Was?« Wir waren überrascht.
    Der Oberst hüstelte in die Faust, was uns seine unterdrückte Begeisterung verriet.
    »Er hat doch keinen Zeigefinger an der rechten Hand, euer Soldat. Wie soll er schießen, seine Heimat verteidigen?« Der Oberst hüstelte noch einmal.
    »Okay«, sagte Andrej, nahm aus dem Eimer den Rest der Farbe und malte unserem grünen Soldaten einen Riesenzeigefinger, der fast wie ein Schwanz aussah.
    »So ist es viel besser«, meinte der Oberst sofort. »Kommt morgen zu mir in den Stab, mal sehen, was ich da für euch tun kann.«
    Am nächsten Tag bekamen wir unsere Papiere, verabschiedeten uns von allen, von unseren Offizieren, unseren Freunden, vom afghanischen Rembrandt, von den Fröschen, vom Radar und vom Kaukasus und fuhren mit dem LKW nach Sagorsk, um von dort einen Zug nach Moskau zu erwischen. In Sagorsk kauften wir eine Flasche Wodka, die wir sofort austranken. Am 29. Dezember abends näherte ich mich meinem Heim. Ich hatte eine Paradeuniform an, meine Stiefel quietschten. In den Fenstern brannte Licht, meine Eltern waren noch wach. Obwohl sie nicht gewusst hatten, dass ich kommen würde, hatte meine Mutter so eine Ahnung gehabt, erzählte sie mir hinterher. Mehrere Wochen brauchte ich, um mich wieder an das zivile Leben zu gewöhnen. Die viel zu kleine Wohnung, die Leute auf der Straße, die alle gleichzeitig aber nicht hintereinander in verschiedene Richtungen liefen und nicht einmal stillstanden, wenn ihnen ein General entgegenkam, das alles verwirrte mich in der ersten Zeit. Aber schon bald konnte ich auch ohne Stiefel ruhig schlafen.

Der Westwind
    Schnell stellte ich fest, wie sich das zivile Leben während meines zweijährigen Aufenthalts im Wald verändert hatte. Wir hatten dort von der Perestroika so gut wie nichts mitbekommen. Die neue Realität stach nun ins Auge: Die vakuumverpackte Gesellschaft, die ich eigenhändig vor feindlichen Raketen geschützt hatte, das harte sozialistische Ei, das seit Jahrzehnten im kochenden Wasser des Kalten Krieges vor sich hin gebrodelt hatte, hatte einen mächtigen Riss bekommen. Alles, was noch einigermaßen flüssig war, floss raus – ins Ausland. Die Menschen standen nicht mehr vor den Lebensmittelgeschäften Schlange, sondern vor den Konsulaten und Botschaften. Deren dunkle Häuser, oft ohne jede Beschriftung,

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