Militärmusik - Roman
hielt ich früher immer für wichtige Sanierungsobjekte, die aus irgendeinem Grund unter Polizeischutz standen. In Wirklichkeit waren es Inseln der Freiheit. Besonders große Schlangen standen vor der holländischen Botschaft, weil sich dort das israelische Konsulat befand. Die amerikanische Botschaft sah auch überlastet aus. Die drei schwarzen, athletisch gebauten Marines mit Maschinengewehren in der Hand und Kaugummi im Mund schreckten das Publikum nicht ab. Man hatte plötzlich das Gefühl, jeder Russe wollte so ein schwarzer Marine werden oder sich zumindest neben einen stellen.
An jeder Ecke verkauften die Leute Anträge, Formulare, Bescheinigungen, Visa-Unterlagen oder Wartenummern. »Damit kannst du nach Australien, damit nach Kanada, damit kommst du nur bis Prag«, erzählten sie einander. Die meisten hatten kein besonderes Reiseziel, sie wollten einfach nur weg. Die Freiheit, die Gorbatschows Perestroika mit sich brachte, wurde vom Volk einfältig aufgenommen – als Freiheit, einfach abzuhauen. Die sozialistische Heimat, die den Bürger bisher immer fest am Kragen gehalten hatte, hatte ihren Griff gelockert, und er brach sofort auf.
»Wo willst du denn hin?«, fragte die Heimat misstrauisch.
»Ich muss mal hier kurz um die Ecke«, log der Bürger die Heimat an.
»Und was hast du in dem Sack?«, wunderte sich die Heimat.
»Ach nichts, nur ein paar Souvenirs für Freunde«, wiegelte der Bürger ab, packte schnell seine Siebensachen und sprang in den nächstbesten Zug.
»Wenn du was aufs Maul kriegst, kommst du einfach wieder zurück«, hatte mein Freund Katzman von seinem Vater mit auf den Weg bekommen, als er mit vierzehn von zu Hause weggegangen war.
Ich telefonierte mit alten Freunden: Die einen versuchten ihr Glück bei irgendeiner Botschaft oder einem Konsulat, die anderen suchten nach alternativen Abhaumöglichkeiten. Mammut verbrachte die meiste Zeit auf dem Arbat, der Haupttouristenstraße von Moskau. Er saß auf dem Fußweg und spielte Gitarre, ohne dafür Geld zu verlangen. Auf diese Weise hatte er bereits mehrere dänische Mädchen der »Next Stop«-Gruppe kennen gelernt, einer Bewegung junger Leute, die seltsamerweise alle eine Glatze trugen und ihn heiraten wollten. Er konnte sich nur noch nicht entscheiden.
Mein alter Kumpel Georg war bereits seit einem halben Jahr in Schottland. Er hatte sich bei einem internationalen Wettbewerb angemeldet, mit dem junge Erzieher für zurückgebliebene schottische Kinder gesucht wurden, und man hatte ihn genommen. Dort heiratete er dann eine Erzieherin, die aus Amerika nach Schottland gekommen war, und blieb. Ein Leben lang hatte Georg unter Neurodermitis gelitten, sein Gesicht war immer rot gewesen. An schlimmen Tagen hatte er immer wie eine frisch geschälte Tomate ausgesehen. Sein Hautleiden war jedoch an dem Tag spurlos verschwunden, als Georg die Grenze der Sowjetunion hinter sich gelassen hatte. Er deutete es als Zeichen von oben und verschickte an seine sämtlichen Freunde Postkarten mit seiner neuen Visage drauf.
Fast alle, die ich von früher kannte, waren entweder unterwegs oder kurz davor zu verreisen oder gerade zurück und planten schon wieder eine neue Tour.
Nur mein alter Freund Katzman, der eigentlich nach Amerika wollte, landete stattdessen in der Klapsmühle. Er hatte die Green Card schon fast in der Tasche gehabt und war geistig bereits in San Francisco gewesen: Katzman hörte keine russische Musik mehr, nur noch amerikanische, außerdem legte er sich ein paar ungarische Cowboystiefel zu, die unter den Moskauer Jugendlichen gerade sehr populär waren. Dazu trug er einen Cowboyhut und besuchte regelmäßig den teuersten Englischkurs, den es damals in Moskau gab: »Englisch unter Hypnose in 33 Tagen«. Seine geistige Verwirrung kam ganz hinterhältig, wie aus dem Nichts, und überraschte nicht nur Katzman, sondern auch alle seine Mitmenschen. Seine Krankheit hieß Patrizia Kaas.
Die französische Sängerin tourte gerade durch die Sowjetunion, im Fernsehen brachten sie jeden Tag denselben Videoclip, in dem die katzenähnliche blonde Frau angetan mit einer Lederjacke auf einem großen Motorrad hin und her zappelte. Das Lied hieß»Mein Zuhälter liebt mich nicht«. Trotz strömenden Regens zog die Sängerin ihre Lederjacke aus und rutschte in einem kurzen nassen T-Shirt weiter auf dem Motorrad herum. Man konnte fast ihren Busen sehen. Der erste Busen in Großformat im sowjetischen Fernsehen! Viel mehr musste Patrizia nicht leisten, um
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