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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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ihnen mit der Technik umgehen konnten, fanden wir schnell eine gemeinsame Sprache. Es gab natürlich ein paar Moslems dabei, die behaupteten, dass sie kein Schweinefleisch essen dürften und dass die Russen an allen Übeln der Welt schuld seien. Unser Schwein aus dem Lebensmittellager war nun ausgerechnet von einem dieser Extremisten geklaut worden. Es kam zu einer Prügelei, wobei dem Kasachen ein Eimer Kartoffelpüree über den Kopf gekippt wurde. Man verlegte ihn schließlich an einen anderen Stützpunkt. Die übrigen Kasachen, die bei uns blieben, waren offen und naiv, die Armee war ihr erster Ausflug aus dem Heimatdorf, für viele vielleicht auch der letzte. Wir wurden bald Freunde.
    ***
    Bei dem eintönigen Leben im Wald kam mir die alte Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, wieder zugute. Ich machte daraus einen Beruf, den eines Wahrsagers. Das heißt, ich las den Soldaten aus der Hand: das, was vergangen war und was noch auf sie zukommen würde. Und diesmal stimmte alles bis in die kleinsten Einzelheiten. Meine Autorität wuchs, und bald durfte ich mir ein gemütliches Wahrsagerbüro in der Baracke direkt unter dem Porträt von Gorbatschow einrichten. Abends ab 20.00 Uhr, wenn mein Wachdienst zu Ende war, hatte ich Sprechstunde. Als Lohn nahm ich nur Naturalien – Zigaretten, Schinken und Konfitüre. Die Erdbeerkonfitüre war die stärkste Währung, vergleichbar dem Gold in der Zivilwelt.
    Zuerst ging ich ganz ernsthaft an das Wahrsagen heran. Ich legte Akten an, damit ich nicht durcheinander brachte, was ich zu wem gesagt hatte. Doch nach einer Weile kam ich zu der erfreulichen und gleichzeitig traurigen Erkenntnis, dass es unter den Soldaten so etwas wie ein gemeinsames Schicksal gab. Die meisten waren jünger als ich und mit achtzehn zur Armee eingezogen worden. Sie stammten aus kleinen Dörfern, hatten noch nie gearbeitet, dann vielleicht eine Straftat begangen, zum Beispiel ein Pferd geklaut oder einen Zigarettenkiosk überfallen, wobei sie nicht erwischt worden waren. Fast alle hatten ein Mädchen, das vorhatte, sie sitzen zu lassen. Die meisten hatten dazu einen Vater oder einen Bruder im Knast. Und viele hatten eine alte und kranke Mutter, die irgendetwas mit den Beinen hatte. Und so weiter und so weiter. Erfreulich war das alles, weil es mir meine Arbeit als Wahrsager sehr erleichterte. Und traurig, weil es so scheußlich war. Die Jungs wollten wissen, ob sie für ihre vergangenen Sünden bestraft werden könnten, ob das Mädchen auf sie warten würde. Vor allem hofften sie auf ein individuelles, eigenes Schicksal, das sie jedoch gerade nicht hatten. Ich konnte genau genommen gleich der ganzen Kompanie wahrsagen, ohne einem Einzigen auf die Hand zu schauen.
    Es war gerade eine Zeit, da die alten dicken Literaturzeitschriften die bisher unterdrückte Weltliteratur endlich veröffentlichen durften. All diese Zeitschriften hatte unsere Kompanie abonniert. Ich las den Soldaten daraus vor: Pasternak, Richard Bach und Ken Keseys Roman »Einer flog über das Kuckucksnest«, den ganzen alten Kram. In unserem von der Außenwelt abgeschnittenen Waldleben kam diese Art von Literatur besonders gut an. Manchmal weinten wir sogar zusammen. Außerdem schrieb ich viele Briefe für die Soldaten. Das war meine zweitwichtigste Beschäftigung. Ich fühlte mich in gewisser Weise für mein Wahrsagen verantwortlich und versuchte daher in den Briefen, die Dorfmädchen dazu zu bringen, dass sie auch wirklich warteten. Zum Teil klappte das sogar: Nachdem die Armeezeit vorbei war, bekam ich ein Dutzend Einladungen zu verschiedenen Hochzeiten. Ich bin aber nur einmal zu einer hingefahren. Danach schwor ich mir, nie mehr im Leben zu wahrsagen.
    Einmal im Jahr mussten wir zum Schießstand. Jeder bekam drei Patronen, ballerte sie irgendwohin und ging zurück in die Baracke oder auf seine Station. Einer der Neuankömmlinge, ein junger Soldat aus Ufa, verkündete am Tag der Schießübung eine seltsame Botschaft. Er sei Pazifist und dürfe gemäß seines Glaubens die Waffe nicht in die Hand nehmen. Der schwule Offizier, der an dem Tag verantwortlich für die Übung war, versuchte, den Jungen zu überreden.
    »Jeder macht im Leben Kompromisse. Durch die Fähigkeit zu Kompromissen und durch Toleranz wird ein Mensch erst der menschlichen Gesellschaft würdig. Ich zum Beispiel, hasse die Gewalt, aber ich haue dir trotzdem kräftig in den Sack, wenn du nicht sofort dein Gewehr in die Hand nimmst. Und deine Kameraden, die dir gegenüber

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