Milliardengrab (German Edition)
die
Vorgänge nur undeutlich, wie hinter einer dicken Nebelwand wahr. Obwohl ihre
Lage unbequem war, verspürte sie keinen Schmerz. Das Gefühl für Zeit und Raum
hatte sie gänzlich verloren.
Berlin,
9. November 1989
»Unverzüglich
… sofort tritt das in Kraft.«
Kaum
eine nebenbei hingeworfene Bemerkung, wie jene des SED-Parteisekretärs Günther
Schabowski, hatte solch eine Welle von Veränderungen ausgelöst. Die
Pressekonferenz war noch nicht beendet, da war auch schon das Ende des ersten
deutschen Arbeiter- und Bauernstaates eingeläutet. Wie so viele bedeutende
Ereignisse in der Geschichte, waren es ein paar Worte - die zudem gar nicht
geplant gewesen waren - die den antifaschistischen Schutzwall samt Arbeiterparadies,
wie ein Kartenhaus einstürzen ließen. Nur wenige in der Spitze der SED
erkannten sofort, welch gewaltige Nachwehen die Maueröffnung nach sich ziehen
würde.
Dr.
Heinz Fiedler, stellvertretender Minister im MfS, und Dr. Alexander
Schalck-Golodkowski, Chef der Kommerziellen Koordinierung, gehörten zu ihnen.
Am Freitag den 10. November räumten diese beiden Herren vorsorglich alle
verfügbaren Devisenkonten leer und bunkerten die Gelder für unterschiedliche
Zwecke. Wenigstens für diese beiden Herren verlief der Übergang vom
Realsozialismus zum Turbokapitalismus nahtlos.
Wien,
zur selben Zeit
Im
großen Spiegelsaal der Bundeswirtschaftskammer in Wien nahm Nora Kaindel die Kommerzialratswürde
entgegen, als sich die Meldung von den Vorgängen in Berlin wie ein Lauffeuer
verbreitete. Für einen Augenblick vergaßen die anwesenden Männer, die frisch
gekürte Kommerzialrätin mit den Augen abzutasten. Selten nahm eine so
ungewöhnlich attraktive Frau an derartigen Veranstaltungen teil. Dass
ausgerechnet an diesem schicksalhaften Tag die Treuhänderin des SED-Vermögens
geehrt wurde, war eine Laune des Schicksals und kein Planungsfehler. Die
Tagesordnung wurde obsolet. Gruppenweise standen aufgeregt diskutierende
Menschen herum und konnten die Vorgänge in Deutschland nicht glauben.
Thomas
Szabo, Studienabbrecher und derzeit freiberuflicher Mitarbeiter des Wochenspiegels,
hatte die Veranstaltung ohne Begeisterung besucht, denn vielmehr als fünfzig
Worte würde man ihm dafür an Platz nicht einräumen. Das sollte sich nun ändern.
Es
gelang ihm, Nora Kaindel ein paar Worte zu entlocken, die er in der Redaktion
geschickt ausschmückte. Die Faszination, welche diese Frau ausstrahlte, war
nahezu unbeschreiblich und dieses Gefühl hatte nicht nur Thomas Szabo. Jedem,
der mit Nora Kaindel zu tun hatte, erging es ähnlich.
Der
nächste Tag hatte ein Horrorszenario für Thomas in petto. Bereits um halb neun
schlich er um das Büro der Kaindel herum und versuchte einen Termin zu bekommen
- aussichtslos. Dann sah er sie durch eine offene Tür am Schreibtisch sitzen
und stürmte ohne Rücksicht auf Verluste ins Büro.
Nora
Kaindel, die gestern noch so freundlich zu ihm gewesen war, spuckte Gift und
Galle. Fluchtartig musste er sich aus den Räumlichkeiten entfernen. Soviel
begriff er allerdings: Es konnte nicht Nora Kaindel gewesen sein, die am Schreibtisch
gesessen hatte, sondern ihre selten in Erscheinung tretende Zwillingsschwester.
Äußerlich unterschieden sich die attraktiven Frauen nicht, aber ihre Schwester
schien eine Xanthippe ersten Ranges zu sein.
Zerknirscht
fuhr er ins Pressehaus und setzte sich zwei Stunden an den PC, um den Artikel
zu verfassen. Dann begab er sich zum Chef vom Dienst, um Platz in der nächsten
Ausgabe zu ergattern.
Sein
Ressortchef, Urban Eisenstein, war auf Kur und so war er gezwungen sich mit
einer Vertretung herumschlagen. Der hatte zwei Leute auf den Mauerfall
angesetzt und so wurde sein Artikel über Nora Kaindel bis auf ein paar
kümmerliche Worte zusammengestrichen. Frustbeladen machte er sich auf den
Heimweg. Zum Überfluss hatte er wegen all dieser Aufregungen den Geburtstag
seiner Freundin, nunmehrige Ex-Freundin, verschwitzt.
Ausgebrannt
setzte er sich bei seiner Mutter an den Küchentisch - die allerdings vergällte
ihm das Abendessen mit ihren Vorwürfen wegen seines abgebrochenen Jusstudiums.
Noch nie hatte er seitdem daran gedacht, das Studium wieder aufzunehmen - doch
heute zog er ernsthaft in Erwägung, seinen Traum vom Journalistenberuf schweren
Herzens zu begraben.
Berlin,
Ende November 1989
Nora
Kaindel saß beim Stellvertreter Mielkes, Generalmajor Dr. Heinz Fiedler, im
Büro und besprach mit diesem die neue politische Lage
Weitere Kostenlose Bücher