Milner Donna
den Mund, aber kein Laut kommt heraus. Sie will schreien. Sie will Natalie sagen, dass sie das Baby hat weinen hören, aber sie kann die Worte nicht bilden. Zu spät. Der letzte Schritt verhallt.
Die Tischplatte schwankt vor ihr. Sie taucht ein in das grüne Wachstuchmeer und ertrinkt in der Finsternis.
5
I M TRÜBEN S CHEIN des Computerbildschirms drücke ich auf die erste Kurzwahl meines Telefons. Jennys Privatnummer.
»Hallo?« Nicks Stimme meldet sich nach dem ersten Läuten. Nur ein Mann nimmt das Telefon beim ersten Klingelton ab. Ich bin noch keiner Frau begegnet, die nicht zumindest das zweite Signal abgewartet hätte. Ist das so, weil es uns einfach nicht gelingt, die alte Vorstellung abzuschütteln, dass wir allzu sehnsüchtig warten, allzu verfügbar sind?
»Hallo, Nick. Ich hoffe, es ist nicht zu spät für einen Anruf.«
»Nein, natürlich nicht«, beruhigt er mich und fragt dann: »Wie geht es dir, Mom?«
Mom , wie schnell hat er sich daran gewöhnt, mich so zu nennen! Nick Mumford, seit drei Jahren mein Schwiegersohn, geht mit mir viel selbstverständlicher um, als ich es je mit ihm tun werde. Aber die Zeit hat den Widerstand aufgeweicht, den ich ihm schon entgegenbrachte, bevor ich ihn überhaupt kannte. Nick, dessen Großvater unser Hausarzt war, als ich klein war, gehört zu den kleinen Wendungen im Leben, die mit dem Augenzwinkern des Unvermeidbaren auftauchen. Genau wie die Tatsache, dass Jenny beschlossen hat, ihr Praktikum ausgerechnet am St. Helena’s Hospital in Atwood zu machen. In dem Moment, als sie mir sagte, dass sie mit dem Enkel des alten Dr. Allen Mumford ausging, war mir klar, dass sie sich in ihn verlieben würde. Und ich wusste, dass sie in der Stadt hängen bleiben würde, um die ich während des größten Teils meines Erwachsenenlebens einen Bogen gemacht habe.
»Hier kommt Jenny.«
»Hi, Mom. Wie geht’s dir?« Beim Klang der Stimme meiner Tochter wird mir klar, wie sehr sie mir fehlt.
»Gut. Ich habe gerade mit Boyer gesprochen.«
»Ja, ich weiß. Ich habe ihn vorhin im Krankenhaus gesehen. Ich habe ihn gebeten, dich anzurufen.«
Ich bin nicht überrascht. Jenny verhält sich wie ein typisches Scheidungskind, das immer versucht, kaputte Beziehungen zu kitten. Wenn es um ihren Onkel und mich geht, ist ihr jeder Vorwand recht, um uns zu zwingen, miteinander zu reden.
»Jen, wie geht es ihr wirklich? Ich meine, wie lange …?«
»Das ist schwer zu sagen«, antwortet sie im professionellen Ton einer Ärztin. »Sie ist schwach, aber sie könnte sich immer noch fangen, oder, na ja, wir wissen es einfach nicht. Warte jedenfalls nicht zu lange, Mom.«
»Ich nehme den Sechs-Uhr-Bus«, sage ich. »Er kommt morgen Abend um neun bei der Kreuzung an. Kannst du mich abholen?«
Die Abzweigung vom Trans-Canada Highway liegt fünfzig Kilometer nördlich von Atwood. Der Bus hält dort nur dann, wenn jemand auf Fahrgäste wartet. »Natürlich bin ich da«, sagt Jenny. »Wir können gleich am Krankenhaus anhalten und Gram besuchen.«
»Gut«, sage ich, dann zögere ich. »Ich bleibe aber in der Stadt und steige im Alpine Inn ab.«
»Warum?«, fragt sie. Die Arztstimme ist jetzt verdrängt von dem schmollenden Tonfall einer Tochter mit verletzten Gefühlen. »Wir haben massenhaft Platz in unserem neuen Haus, Mom. Du hast es ja noch nicht einmal gesehen.«
»Ich weiß, und ich werde es mir ansehen. Bestimmt. Es ist nur, dass ich von der Frühstückspension nebenan zu Fuß ins Krankenhaus gehen kann.«
»Du kannst ein Auto von uns haben, solange du hier bist.«
Als ich nicht antworte, fügt sie ungeduldig seufzend hinzu: »Von unserem Haus aus kannst du die Farm nicht einmal sehen.«
Ich weiß. Ich weiß genau, wo ihr neues Haus steht.
»Bitte, nimm es einfach mal so hin, Jenny. Ich möchte in der Stadt bleiben. Du holst mich nur ab, okay?«
»In Ordnung«, sagt sie resigniert. »Wir können uns auf der Fahrt in die Stadt darüber unterhalten. Und da ist noch was, über das ich mit dir reden muss, Mom.«
In meinem leeren Magen gibt es einen Stich. Es gelingt mir, meine Stimme selbst dann noch gleichgültig klingen zu lassen, als ich frage: »Worum geht es?«
»Bitte nicht am Telefon.«
Ins Bett zurückgekehrt, kann ich nicht wieder einschlafen. Ich bin versucht, aufzustehen und die Nacht durchzulesen. Mein Gott, am Ende werde ich noch wie meine Mutter. Ich wünschte nur, ich hätte in Zeiten wie diesen auch ihren Glauben und vor allem ihren Glauben an die Macht des
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