Milner Donna
Hände, während er meine Augen sucht. »Versprich mir wenigstens, dass ich kommen und dich abholen darf.«
Ich stecke die Hin-und-Rückfahr-Karte in die Tasche, während er die Arme um mich legt.
»Mir ist, als würde ich dich verlieren«, murmelt er.
»Es ist nur, dass ich schon losfahren will«, antworte ich und löse mich von ihm.
»Nicht nur heute«, sagt er. »In letzter Zeit kommt es mir so vor, als würdest du zum Absprung ansetzen.« Er lässt mich los und tritt mit seinem schiefen Lächeln einen Schritt zurück. Er breitet die Arme in einer Geste der Kapitulation aus. Er würde mich nicht gegen meinen Willen halten, ich weiß, aber er wird sein Bestes tun, um diesen Abschiedstanz zu beenden.
So ist Vern. Seine Stärke ist es, loslassen zu können. Aber er hat recht. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich laufe. Ich laufe davon. Er ist der erste Mann, der das erkennt.
Der Busfahrer taucht auf, er stolziert einher wie jemand, der vorübergehend das Schicksal anderer Menschen in der Hand hat. Er öffnet die Klappen des Gepäckraums und fängt an, Koffer in den Bauch des Busses zu werfen.
Hinter mir gehen die Bustüren mit einem mechanischen Seufzen auf. Ich schlinge die Arme um Vern für eine letzte Umarmung.
Ein Teil von mir will ihm sagen, dass ich ihn holen werde, wenn die Zeit gekommen ist. Dass ich an seiner Schulter weinen, mich an seinen starken Körper schmiegen möchte. Aber wir beide wissen, dass das nicht wahr wäre. Außerdem kennt er meine Mutter nur aus meinen Erzählungen. Und sie kennt ihn überhaupt nicht. Meine Mutter hat es nach meinem zweiten Ehemann mit den Männern in meinem Leben aufgegeben. Und in den letzten fünf Jahren war sie zu sehr mit dem Sterben beschäftigt.
6
I CH LEGE MEINE H AND an die Fensterscheibe und winke Vern zu, während der Bus aus der Greyhound-Station zurücksetzt. Vern steht unter dem Neonschild, die Schultern in seiner Jacke hochgezogen, die Hände in den Jeanstaschen vergraben. Während seine Gestalt im Morgennebel verschwindet, denke ich an längst vergangene Sommermorgen, wenn ich einen Bus abfahren sah, in dem meine Tochter saß. Und ich erinnere mich an ein Gefühl von Trauer und Panik, wie es jetzt wohl auf Verns Gesicht steht.
Als Jenny zehn Jahre alt war, gab ich den flehentlichen Bitten meiner Mutter nach und ließ sie einen Teil ihrer Sommerferien auf der Farm verbringen. Ich musste meiner Tochter die Chance geben, ihre Familie kennenzulernen. Sie war ja alles, was sie außer mir hatte. Jennys Vater starb, als sie sieben war. Er hatte ihr keine Familie zu bieten. Die Männer in meinem Leben waren liebevoll zu Jenny und wurden von ihr geliebt, aber sie hatten keine gemeinsame Geschichte, keine gemeinsamen Wurzeln. Ihre Onkel, Morgan und Carl, so verschieden, so unzertrennlich, leben inzwischen auf den Queen Charlotte Islands, vor der Westküste. Jenny hat sie im Laufe der Jahre nur selten gesehen. Ihre Besuche waren erfüllt von Lachen, Späßen und Neckereien. Sie nahmen ihre einzige Nichte zwischen sich bei den Händen und spielten mit ihr »Engelchen, flieg!«. Sie buhlten während ihrer kurzen Zwischenstopps um ihre Aufmerksamkeit und Gunst. Aber während Jenny heranwuchs, war ich die einzige wirkliche Familie, die sie hatte. Ich war nicht genug.
Während ich mir eine Ausrede nach der anderen einfallen ließ, um nicht nach Atwood zurückzukehren, wurde Jenny der Puffer zwischen uns. Und jeden Sommer, sobald ich sie in den Bus gesetzt hatte, fing ich an, mir Sorgen zu machen, dass ihr die alten Klatschgeschichten zu Ohren kommen würden. Wenn sie dann nach den Ferien zurückkam, hörte ich ihr aufmerksam zu. Ich lauschte und hielt Ausschau nach einem Hinweis auf eine Veränderung in der Art, wie sie mich sah; nach jedem Anzeichen einer Enttäuschung über die Entdeckung, dass ich nicht die Mutter war, für die sie mich gehalten hatte.
Der Greyhound-Bus biegt auf den Highway ein, und wie jedes Mal, wenn ich nach Atwood zurückkehre, kämpfe ich gegen die Panik an, die in meiner Brust aufsteigt. Seit sich Jenny dort niedergelassen hat, bin ich erst zweimal dort gewesen. Beide Male schlich ich mich in die Stadt wie ein Dieb, sperrte mich in ihrem gemieteten Haus nahe dem Krankenhaus ein und sah kaum das Tageslicht. Jeden Nachmittag brachte Jenny Mom zu Besuch herüber – als ob ich die Behinderte gewesen wäre. Ich wagte mich nur für meine täglichen Joggingrunden ins Freie.
Am frühen Morgen lief ich nach Norden, am Highway entlang,
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