Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
Vom Netzwerk:
herunter.
    »Vorsicht«, sagte die Stimme, und die Hände hoben sie irgendwohin in den Himmel. Zogen vielleicht ein Kaninchen unterm Teppich hervor oder eine weiße Taube, die immer größer und breiter wurde, daß sie Platz fand auf ihrem Rücken, wenn sie emporflog zu einer Reise in die Welt. Die Hände, Dreckstückhände, zerrten so lange an ihr, bis sie halb lag und halb saß, mit dem Rücken zur Wand. Dann sagte die Stimme, die Dreckstückstimme: »Ich hol was zu trinken.«
    Das kalte Wasser, das sie bekam, verbrannte die Kehle und lief wieder raus. Etwas Graues vor den Augen, wie Wolken, wenn man den Blick zum Himmel hob, aber der Himmel war sonstwo, nicht hier. Eine Grube, so hatte es im Wörterbuch für sterben gestanden, man fuhr in die Grube und kam nicht zurück. Sie blieb so und wußte nicht genau, ob sie nun saß oder lag.
    Vielleicht döste sie ein bißchen, vielleicht war Sommer und sie lag am Strand. Sie wachte auf, als sie etwas hörte, die Stimme wieder, und sie wußte nicht, wie lange alles dauerte, Stunden, Tage?
    Sie konnte nicht rechnen. Die Stimme, die Dreckstückstimme so laut. Vielleicht lockte die den schwarzen Vögel an, der über ihrem Kopf kreiste und sie packen wollte, um sie irgendwohin zu zerren, wohin sie nicht wollte.
     
    »Man muß sich durchsetzen, das stimmt.« Biggi sah hin. Sie bewegte die Augen ein wenig, und wenn sie tot wäre, würde sie das nicht tun. Weil dann die Augen starr waren, viel glasiger noch.
    Sie ging etwas näher heran. »Ich mußte mich doch wehren.« Wehren, ja, man wehrte sich, wurde man angegriffen, ließ es doch nicht einfach so geschehen.
    Sonst hatte sie nichts getan. Nichts war passiert, nichts wirklich Schlimmes, ein Unfall. Da konnte man helfen. Mußte man helfen, durfte sich nicht entfernen vom Unfallort. Sie kniete sich hin und rutschte mit den Armen nach vorn, so daß ihre Augen auf gleicher Höhe waren. Die Henkel guckte sie jetzt an, ja, das war ein gutes Zeichen. Ihr Atem ging schwer. Doch sie guckte sie an, als warte sie auf Worte, nicht hochnäsig, nein, gar nicht.
    Sie war gestürzt, elend gestürzt, würde zu Kräften kommen mit der Zeit. Man mußte bei ihr bleiben, sonst könnte sie sterben, ganz allein.
    Niemand sollte allein sterben. Wenn es ihr einfiel, hatte sie das Bild, wie die anderen da lagen – kein reales Bild, etwas, das sich aufdrängte und sich zugleich verzerrte, so ein Bild, als zöge man vor dem Spiegel die Wangen auseinander. Bei Martin hatte sie die Tage gezählt, die er in seiner Wohnung lag, und dann aufgehört zu zählen und wieder von vorn begonnen, weil sie ihn immer wieder vergessen hatte, acht Tage, neun Tage, vierzehn, zwanzig, und man hatte nicht gehört, daß sie ihn gefunden hätten. Julia konnte sie viel schlechter vergessen, sie wollte sie loswerden, für immer, für ewig, und hatte die Polizei gerufen, was vernünftig war. Da war Martin aber immer noch in seiner Wohnung. Verrückt. Doch sie selbst hatte doch dafür gesorgt, daß sie endlich begraben wurden, wozu man sie erst hatte herausholen müssen, erst Julia, dann Martin. Daß es ein Ende hatte.
    »Sie mußten begraben werden.« Sie sah die Henkel an, und die hörte zu, ja, sie war am Leben. Ihre Augen waren ein bißchen zusammengekniffen, als würde sie sich sehr konzentrieren, aber sie lag wenigstens nicht mehr so da, mit dem Gesicht auf dem Boden, wie vorhin. Jetzt war ihr Kopf gegen die Wand gelehnt, sie saß ein bißchen schief. Kissen stützten sie, damit sie nicht zur Seite kippte.
    »Keiner sollte so lange liegen, oder?« Biggis Stimme war heiser, sie hatte viel geredet und war das viele Reden nicht gewöhnt. »Gibt solche Leute.« Sie rutschte näher und legte der Henkel eine Hand auf die Stirn. Ganz heiß. Vielleicht hatte sie ein bißchen Fieber, vielleicht waren auch die eigenen Hände so kalt. »Wenn sie begraben sind, kann man sie vergessen. Begraben heißt ja vergessen.«
    Doch sie sagte nichts. Sie sah sie nur an. Als würde man sich ohne Worte verstehen. Sie brüllte nicht, wie Julia das gemacht hatte, brüllte nichts Gemeines und belästigte sie auch nicht, wie Martin. Verschwommen Julias Worte, wie hinter Wänden, dieses Gekeife. Oder Theresa. So ein Theater gemacht, raus gebrüllt, als sie Biggi loswerden wollte, raus, raus, raus. Dieser Ton. Als wäre man ein räudiges Vieh, geprügelt und verjagt.
    Biggi stand auf, machte ein paar holprige Schritte. Hockte sie länger auf dem Boden, schmerzte das Bein, doch das gab sich wieder;

Weitere Kostenlose Bücher