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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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als sekundenlang, eine Zehntelsekunde konnte man ihn hören, bevor er herunterkam und sie verbrannte.
    Immer wieder ging sie alles durch und fand den roten Faden nicht, bloß ein Knäuel, in dem sie sich verhedderte. Sie sah das Haus, in dem ihre Mutter wohnte, den kleinen Vorgarten mit den langweiligen Blumen. Wilde Orchideen wären schön, doch ihre Mutter hatte gesagt, sie hätte einen Knall. Nie hatten sie denselben Geschmack. Ihre Mutter stellte sich vor, daß sie im Eiltempo laufend befördert würde, und sie war beleidigt, las sie von einer Tat in der Zeitung und rief dann an und kriegte nichts raus. Sie dachte, daß Dienstgeheimnisse in Familien nicht galten. Sie galten aber. Seit ihr Vater gestorben war, kriegten sie sich dauernd in die Wolle, und sie wußte nicht, woran das lag. Psychokram vermutlich, Vaterbindung mit Folgen für die seelische Gesundheit, auf dem Psychoseminar hatten sie gesagt: Reden, reden, reden. Den Angreifer in ein Gespräch verwickeln, reden, immer reden, bis es gut war, reden.
    Nicht wegkippen. Sie kam nicht hoch. Ihr Körper brannte überall, und die Gedanken kullerten herum. Die Übelkeit, schwarze Silhouetten vor den Augen wie die Schwingen eines großen Vogels. Reden, aber es half ja nicht. Hier war der Tunnel ohne Licht. Und das Licht, das manchmal am Ende brannte, war bloß der Zug, der näher kam.
    »Fried«, sagte die Benz, »Fried, die arme Sau, wollte mit mir Zusammensein, wollte sogar – hm, Sie wissen schon – vögeln. Der. Aber das hab ich nicht nötig, so ein Krüppel, so eine erbärmliche Krücke. Ich fand ihn so widerlich. Ich bin kein Notnagel.« Ihre Stimme war nicht so laut, aber sie dröhnte. Sie ließ sie nicht in Ruhe, die Stimme, war da. »Sie haben ihn doch gesehen, würden Sie so einen haben wollen?«
    Sie wollte antworten, aber die Worte blieben stecken. Als wäre auch das Stimmband gebrochen oder was man da hatte, ja, sie hatte ihn gesehen, Fried, jede Nacht gesehen, aber was wußte dieses Dreckstück davon. »Ja«, flüsterte sie, »ich hab ihn gesehen«, und sie spürte, wie etwas sie wegzog von hier, näher zum Licht, näher zum Zug mit seinem Rattern. »Nicht als du mit ihm fertig warst, da nicht. Später hab ich ihn gesehen, viel später. Was weißt du denn, was –«
    Vielleicht wußte die noch nicht einmal, ob sie jetzt gleich töten sollte oder später oder gar nicht oder doch. Sie brachte es nicht fertig, sie das zu fragen. Es sollte nur schnell gehen, nicht diese elenden Schläge, doch sie hatte zuviel Angst, ihr das zu sagen, sie war nicht gut in solchen Dingen. Sie konnte noch nicht einmal richtig brüllen, obwohl Stocker immer sagte: Schreien Sie nicht. Sie konnte nicht so viel ab. Sie haßte Anschisse, von Pagelsdorf ganz besonders, sie wollte sich dann verkriechen oder gleich anfangen zu heulen, doch das war ja kein Anschiß hier, das war etwas, das nie passierte, nur in Filmen, und sie fing wieder an zu frieren und spürte zugleich den kalten Schweiß überall.
    »Aber ich habe Sie doch erst auf ihn aufmerksam gemacht.« Die Benz kniff die Augen zusammen. »Haben Sie das vergessen? Martin würde heute noch da liegen, wenn ich nicht –«
    »Ja«, sagte sie. »Ja, verdammt, ja.« Sie haßte alle Psychos. Dieses Pack mit seinen Problemen. Kam nicht zu Rande. Ließ andere büßen, konnte nie was dafür. Kein Mensch hatte ihr beigebracht, wie sie sich hier verhalten sollte, reden half ja nicht, weil die schlug, egal, was sie sagte, immer nur schlug.
    Tommy hatte etwas über Frieds Seele gesagt, die unruhige Seele in dem sich auflösenden Körper, und sicher schwebte die jetzt hier herum, wenn man an so einen Stuß glaubte, auf der Suche nach Erlösung. Dachte sie an Tommy, würde ihr vielleicht besser werden, sein schöner Körper und die sanften Augen und die Stimme, mit der er streicheln konnte, wovon er keine Ahnung hatte, und sie würde womöglich krepieren, ohne ihm das alles sagen zu können, weil sie es immer für sich behalten hatte, als würde sie sich etwas vergeben, und darüber mußte sie nachdenken, sie hatte ihn ihren Freundinnen noch immer nicht vorgestellt. Sie kniff die Augen zusammen, doch sein Gesicht verschwamm, und sie versuchte es weiter, bis sie den Schlag wieder spürte, glühende Kohlen, die Krücke auf ihrem Bein und in ihrem Magen und auf ihrer Brust, und einen Moment lang war es, als ob sie woanders war. Weit weg. Als ob man sich wegwünschen konnte, sekundenlang nur, bis der Schmerz kam.
    »Nicht dieser Ton«,

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