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Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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Mähne«, sagte Jum-Jum. »Laß ihn hier grasen, während wir weitergehen und Jiri guten Tag sagen.«
    »Wer ist Jiri?« fragte ich.
    »Du wirst es schon sehen«, sagte Jum-Jum. »Jiri und seine Geschwister wohnen gleich hier in der Nähe.«
    Er nahm mich an der Hand und führte mich zu einem Haus. Es war ein kleines weißes Haus mit einem Strohdach, gerade so ein Haus, wie man es aus den Märchen kennt. Man kann nicht erklären, warum ein Haus aussieht wie aus einem Märchen. Liegt es an der Luft, liegt es an den alten Bäumen, zwischen denen es steht, oder liegt es an den Blumen ringsumher, die so duften, wie es nur im Märchen duftet, oder liegt es vielleicht an irgend etwas ganz anderem? Im Hof vor Jiris Haus stand ein alter runder Brunnen. Ich glaube beinah, es war der Brunnen, der machte, daß Jiris Haus aussah wie ein Haus aus einem Märchen. Denn
    heutzutage gibt es ja diese alten Brunnen nicht mehr; jedenfalls hatte ich vorher niemals einen gesehen.
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    Fünf Kinder saßen um den Brunnen. Das größte unter ihnen war ein Junge. Er winkte uns herbei und lachte übers ganze Gesicht.
    »Ich habe euch kommen sehen«, sagte er. »Ein schönes Pferd habt ihr.«
    »Es heißt Miramis«, sagte ich. »Und das hier ist Jum-Jum. Ich heiße Mio.«
    »Ich weiß«, sagte der Junge. »Ich heiße Jiri, und das sind meine Geschwister.«
    Er sah freundlich und vergnügt aus und seine
    Geschwister auch, beinah, als freuten sie sich, daß wir gekommen waren.
    In der Upplandsgatan war es niemals so. Dort knurrten die Jungen gleich wie Wölfe, wenn man nur in ihre Nähe kam, jedenfalls wenn man nicht näher mit ihnen bekannt war. Es gab immer jemanden, gegen den sie häßlich sein mußten, der nicht dabeisein und mitspielen durfte. Und das war fast immer ich. Benka war der einzige, der mit mir spielen wollte. Es gab da einen großen Jungen, der hieß Janne. Ich hatte ihm nie etwas getan, aber wenn er mich nur sah, sagte er: »Hau ab, oder ich kleb dir eine, daß du wegschwimmst!« Und dann versuchte ich gar 58
    nicht erst mitzuspielen – Verstecken oder was es nun war. Die anderen alle hielten zu Janne und redeten ebenso wie er, denn Janne war groß und stark. Kennt man nur solche wie Janne, so ist man ganz verwundert, wenn man Kinder wie Jiri oder Jum-Jum oder Nonno oder Jiris Schwestern und Brüder trifft, die immer freundlich sind. Jum-Jum und ich setzten uns neben Jiri auf den Brunnenrand. Ich sah in den Brunnen hinunter.
    Er war so tief, daß man keinen Grund sah.
    »Wie holt ihr hier das Wasser herauf?« fragte ich. »Wir holen gar kein Wasser herauf«, sagte Jiri. »Das hier ist kein Wasserbrunnen.« »Was ist es dann für ein Brunnen?« fragte ich. »Wir nennen ihn den Brunnen, der am Abend raunt«, sagte Jiri.
    »Warum das?« fragte ich.
    »Warte bis zum Abend, dann wirst du es verstehen«, sagte Jiri.
    Den ganzen Tag blieben wir bei Jiri und seinen Geschwistern und spielten unter den alten Bäumen. Und als wir hungrig wurden, lief Jiris Schwester Minonna-Nell in die Küche und holte uns Brot. Das war auch solch Brot, das Hunger stillt, und es schmeckte mir genauso gut 59
    wie bei Nonnos Großmutter. Im Gras unter den Bäumen fand ich einen kleinen silbernen Löffel. Ich zeigte ihn Jiri. Da wurde er traurig. »Der Löffel unserer Schwester«, sagte er. »Mio hat den Löffel unserer Schwester gefunden!« rief er seinen Geschwistern zu.
    »Wo ist deine Schwester?« fragte ich ihn. »Ritter Kato«, sagte Jiri, »der grausame Ritter Kato hat sie geraubt.«
    Als er den Namen aussprach, wurde um uns her die Luft kalt wie Eis. Die große Sonnenblume, die im Garten stand, welkte und starb, und viele, viele Schmetterlinge verloren ihre Flügel und konnten nicht mehr fliegen. Und ich hatte Angst vor Ritter Kato, große, große Angst.
    Ich wollte Jiri den kleinen silbernen Löffel geben, aber er sagte:
    »Du darfst den Löffel unserer Schwester behalten. Sie braucht ihn nie mehr, und du hast ihn ja gefunden.« Seine kleinen Geschwister weinten, als sie hörten, daß ihre Schwester nie mehr einen Löffel brauchte. Doch nachher fingen wir wieder an zu spielen und dachten nicht mehr an das, was traurig war. Den Löffel steckte ich in die Tasche und hatte ihn bald vergessen.
    Während wir noch spielten, sehnte ich den Abend 60
    herbei, denn ich wollte gern mehr über diesen seltsamen Brunnen erfahren. Endlich verging der Tag, und es begann zu dunkeln.
    Jiri und seine Geschwister sahen sich ganz merkwürdig an, und Jiri sagte:

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