Mio, mein Mio
Ein Fenster stand offen, und man konnte hören, wie im Hause jemand beschäftigt war. Wir stellten uns in einer Reihe vor das Fenster, Nonno und Jum-Jum und ich.
»Jetzt fangen wir an«, sagte Nonno. »Eins, zwei, drei.«
Da legten wir los und spielten eine so lustige Melodie, daß die Lämmlein tanzen und springen mußten. Und an das offene Fenster kam eine alte Frau, die sehr freundlich aussah. Es war Nonnos Großmutter. Sie schlug die Hände zusammen und sagte: »Nein, welch eine schöne 44
Melodie!« Wir spielten ihr lange vor, und sie blieb die ganze Zeit am Fenster stehen und hörte uns zu. Sie war sehr alt und sah schon etwas sagenhaft aus, obwohl sie doch nur eine richtige lebendige Großmutter war.
Nachher gingen wir ins Haus. Nonnos Großmutter fragte uns, ob wir Hunger hätten. Und wir hatten Hunger.
Deshalb holte sie einen Laib Brot hervor, schnitt davon dicke Scheiben herunter und gab sie uns. Es war braunes, knuspriges Brot, und es war so gutes Brot, wie ich es noch nie in meinem Leben gegessen hatte. »Oh, wie schmeckt es gut«, sagte ich zu Nonno. »Was ist das für Brot?« »Ich weiß nicht, ob es besonderes Brot ist«, sagte Nonno. »Wir nennen es das Brot, das Hunger stillt.«
Auch Miramis wollte etwas zu essen haben. Er kam und steckte den Kopf zum offenen Fenster herein und wieherte leise. Wir lachten über ihn, weil es lustig aussah. Nonnos Großmutter streichelte Miramis’ Nase, und er bekam auch von dem guten Brot. Danach war ich durstig, und als ich das zu Nonno sagte, meinte er:
»Komm mit!«
Er ging mit uns in den Garten. Dort sprudelte eine klare Quelle. Nonno tauchte einen Holzkübel in die Quelle und 45
schöpfte Wasser. Und wir tranken aus dem vollen Kübel.
Es war so kühles und gutes Wasser, wie ich es noch nie in meinem Leben getrunken hatte. »Oh, wie war das gut«, sagte ich zu Nonno. »Was ist das für eine Quelle?«
»Ich weiß nicht, ob es eine besondere Quelle ist«, sagte Nonno. »Wir nennen sie die Quelle, die Durst löscht.«
Miramis war auch durstig, und wir gaben ihm Wasser zu trinken und tränkten auch die Lämmer und Schafe.
Bald mußte Nonno mit seinen Schafen zur Weide zwischen den Hügeln zurückwandern. Er bat seine Großmutter, ihm seinen Mantel zu geben. Den brauchte er, um sich darin einzuwickeln, wenn er nachts draußen zwischen seinen Schafen schlief. Sie gab ihm einen braunen Mantel. Ich fand, Nonno konnte froh sein, daß er draußen auf der Erde schlafen durfte. Ich hatte es noch nie getan. Benka und seine Eltern sind manchmal mit den Rädern unterwegs und zelten. Sie schlagen ihr Lager an einem Waldrand auf und haben Schlafsäcke
mitgenommen, in denen sie nachts liegen. Benka meinte immer, es sei das Lustigste, was er kenne, und ich glaube ihm das auch.
»Dürfte ich doch auch einmal eine ganze Nacht im 46
Freien bleiben!« sagte ich zu Nonno. »Das darfst du doch«, sagte Nonno. »Komm mit!« »Nein«, sagte ich.
»Mein Vater, der König, wird unruhig, wenn ich nicht nach Hause komme.« »Ich kann ja zu unserem Herrn, dem König, gehen und ihm sagen, daß du heute nacht draußen auf der Erde schläfst«, sagte Nonnos
Großmutter. »Und zu meinern Vater auch?« fragte Jum-Jum. »Zum Rosengärtner auch.« Nonnos Großmutter nickte.
Darüber wurden wir so froh, Jum-Jum und ich, daß wir höher hüpften und sprangen als die Lämmchen. Aber Nonnos Großmutter zeigte auf unsere kurzen weißen Kittel und sagte:
»Wenn der Tau fällt, werdet ihr frieren.« Und plötzlich sah sie ganz traurig aus und sagte mit einer sehr leisen Stimme: »Ich habe noch zwei Mäntel.«
Sie ging zu einer alten Truhe, die in einer Ecke der Stube stand, und holte zwei Mäntel hervor, einen roten und einen blauen.
»Die Mäntel meiner Brüder«, sagte Nonno. Auch er sah traurig aus.
»Wo sind deine Brüder?« fragte ich.
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»Ritter Kato«, flüsterte Nonno, »der grausame Ritter Kato hat sie geraubt.«
Noch während er das sagte, wieherte Miramis draußen laut auf, als hätte ihn jemand gepeitscht. Jedes Lämmchen sprang ängstlich zu seiner Mutter, und alle Schafe blökten, als sei ihre letzte Stunde gekommen.
Nonnos Großmutter gab mir den roten Mantel und Jum-Jum den blauen. Sie gab Nonno einen Laib von dem Brot, das Hunger stillt, und einen Krug mit Wasser aus der Quelle, die Durst löscht, und dann wanderten wir über die Hügel wieder denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.
Ich war traurig über das, was mit Nonnos Brüdern geschehen war; aber ich
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