Mio, mein Mio
Haus aus einem Märchen. Wir hörten es im Haus klappern, und Milimani sagte: »Mein Mutter webt.«
Dicht am Zaun sprang sie vom Pferd, winkte uns zu und sagte:
»Ich bin so froh, daß ich heimgekommen bin. Und ich bin so froh, daß ich heimgekommen bin, bevor die Apfelbäume verblüht sind.«
Sie lief den kleinen Pfad zwischen den Apfelbäumen hinauf und verschwand im Haus. Und da hörte der Webstuhl im Hause auf zu klappern. Aber noch hatten wir einen weiten Weg zur Insel der grünen Wiesen. Ich sehnte mich nach ihr und nach meinem Vater, dem König. Und die hundert weißen Pferde mit Miramis an der Spitze erhoben sich über den Wald der Dunkelheit, sie stiegen höher als die höchsten Berge, und hoch oben nahmen sie ihren Weg durch die Luft zur Insel der grünen Wiesen.
Es war Morgen, als wir zur Brücke des Morgenlichts kamen. Die Brückenwächter hatten die Brücke gerade ausgeschwenkt, und sie strahlte golden und licht, als die hundert weißen Pferde mit gestreckten Hälsen und flatternden Mähnen über sie hinwegsprengten. Und die Brückenwächter sahen erstaunt aus und starrten uns an. Einer von ihnen aber setzte ein Horn an die Lippen und blies hinein. Der Schall tönte über die Insel der grünen Wiesen. Aus den kleinen Häusern und Hütten kamen alle herbeigelaufen, alle, die um die geraubten Kinder getrauert und geklagt hatten. Und nun sahen sie sie auf den weißen Pferden reiten, und keines der Kinder fehlte – alle waren sie heimgekommen. Die weißen Pferde sprengten weiter über die Wiesen, und bald waren wir bei meines Vaters, des Königs, Rosengarten. Dort sprangen alle Kinder von den Pferden, und ihre Mütter und Väter liefen herbei, und sie waren vor Freude so ausgelassen wie die hundert weißen Pferde, als sie gesehen hatten, daß das Fohlen heimgekommen war. Nonno war auch da und auch seine Großmutter und Jiri und seine Geschwister und Jum-Jums Mutter und Vater und viele Menschen, die ich nie gesehen hatte, und sie weinten und lachten durcheinander, und sie drückten und küßten die Kinder, die heimgekommen waren. Mein Vater, der König, war nicht da. Die hundert weißen Pferde brauchten wir nicht mehr. Sie kehrten zurück in den Wald der Dunkelheit. Ich sah sie über die Wiesen galoppieren. Vor ihnen her lief das kleine weiße Fohlen.
Jum-Jum begann, seinem Vater und seiner Mutter zu erzählen, was wir erlebt hatten. Er achtete nicht darauf, wie ich die kleine Pforte zum Rosengarten öffnete. Niemand bemerkte, daß ich in den Rosengarten ging, und das war gut. Denn ich wollte allein dort hineingehen. Ich ging unter den Silberpappeln entlang. Wie immer rauschten sie, wie immer blühten die Rosen – alles war wie immer.
Da sah ich ihn – ich sah meinen Vater, den König. Dort, wo ich ihn verlassen hatte, als ich zum Wald der Dunkelheit und zum Land Außerhalb geritten war, dort stand er. Dort stand er und streckte mir seine Arme entgegen, und ich warf mich an seine Brust. Fest, ganz fest drückte ich ihn an mich, und er drückte mich fest an sich und flüsterte: »Mio, mein Mio!«
Denn er liebt mich, mein Vater, der König, und ich, ich liebe ihn, meinen Vater.
Den ganzen Tag hatte ich es wunderschön. Wir spielten im Rosengarten, Jum-Jum und ich und Nonno und seine Brüder und Jiri und seine Geschwister und alle die anderen Kinder. Sie durften sich die Hütte ansehen, die Jum-Jum und ich gebaut hatten, und sie fanden alle, es sei eine wunderschöne Hütte. Wir ritten auch auf Miramis, und er sprang über die Rosenhecken. Und dann spielten wir mit meinem Mantel. Nonnos Bruder wollte ihn nicht wiederhaben. »Das Futter jedenfalls gehört dir«, sagte er. Und wir spielten Verstecken mit dem Mantel. Ich hängte ihn mir um, mit dem Futter nach außen, und sprang zwischen den Rosenbüschen umher. Ich war unsichtbar und rief:
»Niemand kann mich fangen! Niemand kann mich fangen!«
Und sie konnten es nicht, wie sie es auch versuchten. Als es zu dämmern begann, mußten alle Kinder nach Hause. Ihre Mütter und Väter wollten wohl nicht, daß sie am ersten Abend so lange draußen blieben. Jum-Jum und ich saßen noch eine Weile allein in unserer Hütte. Die Dämmerung senkte sich über den Rosengarten, und wir spielten auf unseren Flöten. »Wir wollen auf unsere Flöten achtgeben«, sagte Jum-Jum. »Und sollten wir uns einmal verlieren, dann wollen wir die alte Melodie spielen.« In diesem Augenblick kam mein Vater, der König, um mich zu holen. Ich sagte Jum-Jum gute Nacht, und er lief
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