Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
Vom Netzwerk:
wohl, leb wohl, Bo Vilhelm Olsson.« Es klang so merkwürdig. Sonst sagte sie doch immer nur Bosse. Ich rannte zum Briefkasten einige Straßen weiter. Gerade als ich die Karte in den Schlitz werfen wollte, sah ich, daß es um sie her leuchtete und strahlte wie von Feuer. Ja, die Buchstaben, die Tante Lundin geschrieben hatte, leuchteten wie Flammenschrift. Ich konnte es nicht lassen, ich mußte sie lesen. Und das stand auf der Karte:
An den
KÖNIG
LAND DER FERNE
Er ist auf dem Weg, er, den Du so lange gesucht hast. Er reist durch Tag und Nacht, und er hält in seiner Hand das Zeichen, den goldenen Apfel.
    Ich begriff kein Wort. Aber mich überlief ein eigenartiges Frösteln. Ich beeilte mich, die Karte in den Briefkasten zu werfen.
    Wer war es, der durch Tag und Nacht reiste? Und wer trug in seiner Hand einen goldenen Apfel? Da fiel mein Blick auf den Apfel, den ich von Tante Lundin bekommen hatte. Der Apfel war aus Gold. Er war aus Gold, sage ich. Ich hielt in meiner Hand einen goldenen Apfel.
    Beinah hätte ich geweint. Ich tat es nicht, aber beinah. Ich fühlte mich so einsam. Ich ging in den Tegnerpark und setzte mich auf eine Bank. Kein Mensch war in der Nähe. Alle waren nach Hause gegangen, um zu essen. Im Park war es dämmerig, und es regnete ein wenig. Aber in den Häusern ringsum war es hell. Ich konnte sehen, daß auch aus Benkas Fenster Licht schien. Nun saß er dort und aß Erbsen und Eierkuchen, zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter. Ich stellte mir vor, daß überall dort, überall, wo Licht war, Kinder mit ihren Vätern und Müttern beisammen waren. Nur ich, ich saß hier draußen im Dunkeln. Allein. Allein mit einem goldenen Apfel, von dem ich nicht wußte, was ich damit anfangen sollte.
    Vorsichtig legte ich den Apfel neben mich auf die Bank, während ich weiter nachdachte. Eine Laterne stand hinter mir. Ihr Schein fiel auf mich und auf den Apfel. Aber ihr Schein fiel auch auf etwas anderes, was auf dem Boden lag. Es war eine gewöhnliche Bierflasche. Sie war leer. Jemand hatte ein Stück Holz in ihren Hals gepfropft. Sicher eines der Kinder, die immer vormittags im Tegnerpark spielten. Ich hob die Flasche auf und sah mir das Etikett an. »Stockholmer Brauerei-Aktien-Gesellschaft Klasse II« stand darauf. Und während ich so da saß und las, sah ich auf einmal, wie sich in der Flasche etwas bewegte.
    In »Tausendundeine Nacht« hatte ich von einem Geist gelesen, der in eine Flasche gesperrt worden war. Aber das war doch im fernen Arabien und vor Tausenden von Jahren geschehen, und dann war es wohl auch keine gewöhnliche Bierflasche gewesen. Es wird selten vorkommen, daß in den Flaschen der Stockholmer Brauereien Geister sind. Aber hier war einer. Ganz bestimmt. Jedes meiner Worte ist wahr: In der Flasche war ein Geist. Und man konnte sehen, daß er herauswollte. Er zeigte auf das Holzstück, das den Flaschenhals verschloß, und sah mich flehend an. Da ich nicht gerade an Geister gewöhnt war, hatte ich natürlich zuerst Angst, den Holzpfropfen herauszuziehen. Aber schließlich tat ich es doch, und mit einem großen Brausen fuhr der Geist aus der Flasche und begann zu wachsen und wurde größer, so groß, daß er bald größer war als alle Häuser am Tegnerpark. Das ist ja die Art der Geister: Sie können zusammenschrumpfen und so klein werden, daß sie in einer Flasche Platz finden, und im nächsten Augenblick können sie wieder wachsen und groß werden wie Häuser. Niemand kann sich denken, wie ängstlich ich wurde. Ich zitterte am ganzen Körper.
    Und dann sprach der Geist auch noch zu mir. Seine Stimme war ein einziges großes Brausen. Ich dachte, das hier sollten Tante Edla und Onkel Sixten einmal hören, die immer finden, unsereins spräche zu laut. »Kind«, sagte der Geist zu mir, »du hast mich aus meinem Gefängnis befreit. Bestimme selbst, wie ich dich belohnen soll.«
    Aber ich wollte keine Belohnung dafür, daß ich ein kleines Stück Holz herausgezogen hatte. Der Geist erzählte, er sei am Abend zuvor nach Stockholm gekommen und in die Flasche gekrochen, um zu schlafen, denn Flaschen seien der Geister liebste Schlafplätze. Aber während er schlief, sei ihm der Ausgang versperrt worden. Hätte ich ihn nicht befreit, er hätte vielleicht tausend Jahre in der Flasche bleiben müssen, bis der Holzpfropfen endlich verfault wäre.
    »Und das hätte meinem Herrn, dem König, sicher nicht gefallen«, sagte der Geist mehr zu sich selbst. Da faßte ich Mut und fragte: »Geist, wo kommst

Weitere Kostenlose Bücher