Mio, mein Mio
Haufen Steine. »Ritter Katos Burg ist nicht mehr«, sagte Jum-Jum. »Nein, nun gibt es hier nur noch Steine«, sagte ich. Vom Burgfelsen schlängelte sich ein Pfad zum See hinunter, ein steiler und schmaler und gefährlicher Pfad. Miramis kletterte sehr vorsichtig und setzte die Hufe sehr genau, und das tat auch das kleine Fohlen. Und ohne Schaden kamen wir hinunter an den Strand.
Auf einem Steinplateau dicht am Fuß des Felsens stand eine Gruppe Kinder. Sicher hatten sie uns erwartet. Mit strahlenden Gesichtern kamen sie uns entgegen. »Oh, dort sind Nonnos Brüder!« sagte Jum-Jum. »Dort ist Jiris kleine Schwester, und da sind alle die anderen. Es gibt keine verzauberten Vögel mehr.« Wir sprangen von Miramis. Alle Kinder umringten uns. Sie sahen etwas schüchtern aus, aber doch auch freundlich und glücklich. Ein Junge, einer von Nonnos Brüdern, nahm meine Hand und sagte leise etwas, als wolle er nicht, daß es jemand höre:
»Ich bin so froh, daß du meinen Mantel hattest. Und ich bin so froh, daß wir nicht mehr verzaubert sind.« Ein Mädchen kam auch zu mir. Es war Jiris Schwester.
Sie sah mich nicht an, sondern blickte auf den See – so schüchtern war sie – und sagte mit leiser Stimme:
»Ich bin so froh, daß du meinen Löffel hattest. Und ich bin so froh, daß wir nicht mehr verzaubert sind.«
Der andere von Nonnos Brüdern legte seine Hand auf meine Schulter und sagte:
»Ich bin so froh, daß wir dein Schwert aus der Tiefe fischen konnten. Und ich bin so froh, daß wir nicht mehr verzaubert sind.«
»Aber jetzt liegt das Schwert wieder auf dem Grunde des Sees«, sagte ich. »Und das ist nur gut, denn nun brauche ich nie mehr ein Schwert.«
»Nein, und wir können es nie mehr heraufholen«, sagte Nonnos Bruder, »denn wir sind jetzt keine verzauberten Vögel mehr.«
Ich sah mich unter all den Kindern um.
»Wer ist die kleine Tochter der Weberin?« fragte ich die Kinder.
Da wurden alle still. Niemand sagte etwas.
»Wer ist die kleine Tochter der Weberin?« fragte ich noch einmal, denn ich wollte ihr erzählen, daß mein Mantel mit Stoff gefüttert sei, den ihre Mutter gewebt hatte.
»Milimani ist die kleine Tochter der Weberin«, sagte Nonnos Bruder.
»Wo ist sie?« fragte ich.
»Dort liegt Milimani«, sagte Nonnos Bruder.
Die Kinder traten zur Seite. Ganz unten am Rand des Wassers lag auf den Steinen ein kleines Mädchen. Ich lief hin und sank neben ihr in die Knie. Mit geschlossenen Augen und stumm lag sie da. Sie war tot. Ihr Gesicht war weiß und klein. Ihr ganzer kleiner Körper war verbrannt.
»Sie ist gegen die Fackel geflogen«, sagte Nonnos Bruder.
Ich war entsetzt. Ich war unglücklich und traurig. Meinetwegen war Milimani gestorben. Nichts war mehr schön, denn Milimani war meinetwegen gestorben. »Sei nicht traurig«, sagte Nonnos Bruder. »Milimani hat es selbst gewollt. Sie wollte gegen die Fackel fliegen, obwohl sie wußte, daß ihre Flügel Feuer fangen würden.«
»Aber jetzt ist sie tot«, sagte ich. Und ich war sehr unglücklich. Nonnos Bruder nahm Milimanis kleine verbrannte Hände zwischen seine Hände. »Wir müssen dich hierlassen, Milimani«, sagte er. »Aber bevor wir gehen, wollen wir dir unser Lied singen.«
Alle Kinder setzten sich neben Milimani auf die Steine und sangen ihr ein Lied, das sie selbst erdacht hatten.
»Milimani, unsere kleine Schwester,
kleine Schwester, die in den Wellen versank,
versank mit brennenden Flügeln.
Milimani, o Milimani!
Stumm schläft sie und erwacht nie mehr,
und nie mehr fliegt Milimani
mit klagendem Schrei über finsteres Wasser dahin.«
»Nein, weil es kein finsteres Wasser mehr gibt«, sagte Jum-Jum. »Nur kleine, freundliche Wellen gibt es, und sie singen für Milimani, wenn sie am Strand liegt und schläft.«
»Wenn wir doch nur etwas hätten, um sie einzuhüllen«, sagte Jiris Schwester. »Etwas Weiches, damit sie auf den Steinen nicht so hart liegt.«
»Wir hüllen Milimani in meinen Mantel«, sagte ich. »Wir hüllen sie in den Stoff, den ihre Mutter gewebt hat.«
Und ich hüllte Milimani in meinen Mantel, der mit Märchengewebe gefüttert war. Weicher als Apfelblüten war er, sanfter als der Nachtwind im Gras, wärmer als des Herzens rotes, rotes Blut, und es war ihre Mutter, die ihn gewebt hatte. Ganz vorsichtig hüllte ich Milimani in meinen Mantel, damit sie weich auf den Steinen liegen konnte.
Da schlug Milimani die Augen auf und sah mich an. Zuerst lag sie still und sah nur mich an. Dann richtete
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