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Mira und der weiße Drache (German Edition)

Mira und der weiße Drache (German Edition)

Titel: Mira und der weiße Drache (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margit Ruile
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Sperberweibchen auf dem schwarzen Feld. Der Raubvogel fixierte Miranda mit seinen honiggelben Augen. Auf dem Feld flatterten panisch einige Krähen auf. Der Sperber breitete seine Schwingen aus, stieg hoch, nutzte den leichten Wind und ließ sich treiben, bis er hinter den dunklen Wolken verschwunden war.
    Miranda blickte dem Vogel lange nach. Dann untersuchte sie das Papierstück in ihren Händen. Es war mit einem roten Siegel verklebt, in das winzige Buchstaben geprägt waren.
    Und zum ersten Mal in ihrem Leben ärgerte sie sich darüber, nicht lesen zu können.

2. Kapitel
    in dem Mira Miranda kennenlernt
und Miranda einen Wurm verschlingt
    Mira saß allein in einem Abteil, als der Regionalzug plötzlich bremste. Sie wurde nach vorne geschleudert, und ihr blauer Koffer wäre ihr um ein Haar von der Hutablage gegenüber gerutscht, wenn sie ihn nicht aufgehalten und auf das Gitter zurückgeschoben hätte. Der Zug hielt auf freier Strecke, neben einem Feld, auf dem ein paar Krähen die Saat aus den schwarzen Furchen pickten. Weit und breit waren keine Häuser zu sehen, geschweige denn ein Bahnhof. Neugierig schob Mira die Abteiltür auf und trat in den Gang hinaus. Mit einiger Anstrengung drückte sie dort die Fensterscheibe nach unten und blickte nach draußen. Endlich hatte es aufgehört zu regnen.
    Es war der erste Tag von Miras Herbstferien und sie war auf dem Weg zu ihrer Tante Lisbeth aufs Land. Ihre Mutter hatte eine Einladung nach Berlin erhalten und konnte Mira nicht mitnehmen. Deshalb sollte sie nun zu dieser Großtante fahren, die sie noch nicht einmal kannte. Mira hatte zwar beteuert, dass sie auch gut eine Woche allein zu Hause hätte wohnen können. (Vor allem hatte sie sich schon darauf gefreut, eine Woche im Schlafanzug im Bett mit ihren Büchern zu verbringen.) Ihre Mutter hielt diesen Vorschlag allerdings für ganz und gar inakzeptabel.
    Also hatte Mira ihre Sachen gepackt und sich zwar nicht besonders auf ihre Großtante, aber doch auf ihre erste Zugreise gefreut, die sie allein unternehmen durfte.
    Und bis vor wenigen Minuten hatte Mira die Reise auch Spaß gemacht. Als sie losfuhren, hatte der Fahrtwind die Regentropfen über die Scheiben getrieben. Anfangs waren lange weiße ICE-Züge wie riesige zischende Schlangen an ihr vorbeigerauscht, später sah sie noch ab und an einen kleinen Regionalzug neben sich rattern. Die Ortschaften waren weniger geworden, und zwischen ihnen lagen immer mehr Wälder, deren Eichen und Buchen gerade dabei waren, ihr buntes Laub abzuwerfen.
    Doch jetzt, als der Zug hielt, überlegte Mira für einen Moment, einfach auszusteigen. Als sie nämlich vorhin ihr Buch ausgepackt hatte, hatte sie bemerkt, dass das Lesezeichen nicht mehr zwischen den Seiten steckte. Nun, das wäre eigentlich nicht weiter schlimm gewesen, wäre ihr Lesezeichen nicht die Fahrkarte gewesen und läge diese nicht gerade bei Mira zu Hause auf dem Küchentisch. Jetzt war sie also ohne Zugticket unterwegs und damit so etwas wie ein blinder Passagier.
    Der Wind fuhr ihr durch die halblangen braunen Haare und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Für einen Moment wünschte sie sich, unsichtbar zu sein.
    Ein großer Raubvogel war inzwischen am Himmel zu sehen. Er zog zwei weite Kreise und verschwand dann zwischen den Wolken. Fliegen − dachte Mira −, fliegen war nach dem Unsichtbarsein das, was sie sich jetzt am meisten wünschte.
    Mittlerweile steckten auch die anderen Fahrgäste ihre Köpfe aus den Fenstern. »Wann geht es denn weiter?«, rief ein Mann aus einem der vorderen Wagen dem Schaffner zu, der den Bahndamm entlanglief. Der Schaffner zuckte mit den Achseln.
    »Eine Signalstörung! Das kommt hier dauernd vor«, erklärte er und ging weiter nach vorne, um sich mit dem Lokführer zu unterhalten. Leise vor sich hin schimpfend, bestieg er dann wieder den Zug, der sich kurz darauf rumpelnd in Bewegung setzte.
    Als Mira in ihr Abteil zurückkehrte, sah sie, dass sie es nicht mehr für sich allein hatte. Ein Mädchen mit roten, zerzausten Haaren saß im gegenüberliegenden Sitz. Sie schien nicht älter als Mira zu sein. Ihre nassen Schuhe hatte sie auf Miras Sitz gelegt und blätterte in dem Exemplar von Gullivers Reisen , das Mira auf dem Tischchen neben dem Fenster hatte liegen lassen.
    »Liest du das etwa alles?«, fragte das Mädchen. Mira nickte etwas verwirrt. »Ja, was denkst denn du?«, sagte sie schließlich und überlegte sich, wie sie den Eindringling dazu bringen konnte,

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