Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
sein zartes Gesicht füllte die Kugel fast ganz aus.
»Nein, die Gegenwart kann man in dieser Kugel nicht sehen.« Der Mann lächelte.
»Das ist er«, flüsterte Thaddäus. »Cyril de Montignac!«
Mira staunte. Der Mann hatte viel Ähnlichkeit mit dem Drachen. Er wirkte ebenso zierlich wie mächtig. Seine Augenbrauen waren geschwungen, und seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, sodass man jeden Moment eine spöttische Bemerkung von ihm erwartete. Und auch seine Augen waren genau wie die des Drachen. Groß und dunkelgrün mit einem melancholischen Schimmer.
Er war prächtig und fast etwas geckenhaft gekleidet. Über dem weißen Hemd mit Brokatborten hielt eine silberne Kordel einen samtenen Umhang zusammen, der an den Rändern mit dunklem Pelz besetzt war. Unter einer gestreiften Samtkappe floss lockiges, bereits silbern schimmerndes Haar über seine Schultern.
»Meinst du, ich sehe gut aus?«, fragte er und musterte sein Gesicht in einem Handspiegel. »Ich will schließlich auf meinen Freund in der Zukunft keinen schlechten Eindruck machen.«
Das Silbermännchen hatte sich hinter ihm auf einer Zeichnung niedergelassen und musterte ihn seufzend.
»Wenn das Kerzenlicht von rechts kommt, taucht es Euer Gesicht in noch besseres Licht.«
Cyril zog augenblicklich die Kerze zu sich heran. »So?«, fragte er. Das Silbermännchen nickte geduldig. »Ihr müsst natürlich auch bedenken, dass die Mode wechselt. Das, was Ihr heute tragt, mag den kommenden Generationen seltsam erscheinen.« Cyril de Montignac zog seinen bestickten weißen Spitzkragen unter dem Pelz zurecht. »Das kann ich mir kaum vorstellen!«
Thaddäus sah an sich herab, grinste und deutete auf das Bild der Heavy-Metal-Band, das von seinem verwaschenen T-Shirt bröckelte. »Ich mir schon!«
Cyril räusperte sich nun und setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. »Diese Botschaft ist bestimmt für Thaddäus Eckling, den besten Zauberer seiner Generation.«
»Habt ihr das gehört, Kinder?«, fragte Thaddäus und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Cyril lächelte. »Also, ich habe hier die Botschaft für dich, mein lieber Thaddäus. Sozusagen eine kleine Nachricht vom bedeutendsten Zauberer meiner Zeit zu dem bedeutendsten Zauberer der Zukunft.« Er fuhr sich durch sein gelocktes Haar. »Ich weiß, welche Last das Talent bedeutet, und hoffe nur, dass du trotz deiner Fähigkeiten genauso bescheiden geblieben bist wie ich.«
Thaddäus nickte.
»Ich finde, Ihr solltet langsam zum Wesentlichen kommen«, riet das Silbermännchen und zog eine Grimasse.
Cyril sah es kurz verwirrt an und drehte sich dann wieder in die Kugel. »Nun gut! Jahrelang habe ich der Versuchung, in die Zukunft zu sehen, widerstanden. Und doch hat mir die Kugel etwas vorgegaukelt. Ohne meinen Willen. Und so habe ich erfahren, dass sich nach meinem Tod die Zaubergemeinde spalten wird. Ich halte diese Spaltung für verhängnisvoll, aber sie wird einige Hundert Jahre bestehen. Sie aufzuheben, mein lieber Thaddäus, wird die Aufgabe deiner Zeit sein.«
Cyril de Montignac ging zu seinem Schreibtisch zurück, klappte das Buch zu, an dem er eben noch gezeichnet hatte, und ging damit zu der Kugel. Dann hielt er es so, dass die Kinder und Thaddäus den dunkelgrünen Einband sehen konnten. Auf dem Samtumschlag prangte ein großes verschnörkeltes M .
»Das Buch der Metamorphosen !«, rief Mira. Nie hätte sie gedacht, dass sie es so bald wiedersehen würde.
Thaddäus legte den Finger an seine Lippen. »Lass uns weiterhören.«
Cyril fuhr mit seinen Fingern behutsam über das Buch. »In dieses Buch habe ich alle Geheimnisse schwarzer und weißer Zauberer gelegt.«
»Das Buch gibt es aber doch nicht mehr!«, dachte Mira verzweifelt.
Cyril de Montignac lächelte, als hätte er durch die Jahrhunderte hindurch ihre Gedanken vernommen.
»Allerdings erschien es mir zu gefährlich, nur ein Buch derZukunft zu überlassen. Wer weiß, wohin sie führt. Die Zukunft ist ein Fluss ohne Wiederkehr. Ein glänzender Strom, der unsere Gedanken und Träume in eine unbeschriebene Zeit lenkt! Deshalb ...« Er hob seinen schmalen Zeigefinger und zog aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch noch ein zweites Buch hervor. Es war auch dunkelgrün und glich dem ersten bis aufs Haar. »Deshalb habe ich zwei Bücher geschaffen. Sie sind sich absolut gleich. Das eine ist die Abschrift des anderen. Eine Ausgabe lasse ich hier in diesem Turm. Es wird hier gut verborgen und erst zu deiner
Weitere Kostenlose Bücher