Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
körperlicher Fähigkeiten in sich trägt, so ist es auch bei den Sirilim. Manch einer unter ihnen muss sich damit begnügen, seinen Arm in einen Baum zu stecken und die Hand irgendwo anders wieder aus dem Stamm treten zu lassen. Ein anderer v ermag den Flug eines Falken zu deuten oder das Gelege eines Schneekrokodils im Eis zu finden. Selbst unter dem Alten Volk gibt es hingegen nur wenige, denen selbst die Zeit nur wie ein zusammengefaltetes seidenes Tuch ist, und einige besonders begabte Sirilim können dieses Gewebe in jede beliebige Richtung wie mit einer Nadel durchstoßen. Das alles ist also keine Zauberei, sondern nur ein Ausdruck ihrer begnadeten Natur.
Dennoch oder gerade deshalb ist es kaum verwunderlich, dass der an und für sich atemberaubend schöne Anblick eines
Sirilo oder einer Sirila so manchen abergläubischen Zeitgenossen in Angst und Schrecken versetzt hat. Auch Königin Vania machte da keine Ausnahme. Wiewohl sie eine Nachfahrin des legendären Jazzar - siril und eine Sirilimprinzessin war und man sie weithin für die letzte Überlebende des so grausam niedergemetzelten Alten Volkes hielt, brachte man ihr mehr Argwohn als Mitgefühl entgegen. Da passte es in die vorgefasste Meinung, sie für eine herzlose Mutter zu halten, die jeweils nur einem ihrer Söhne das Verlassen der privaten Gemächer gestattete, während sie den anderen behütete wie eine Glucke ihre Küken – möglicherweise, um ihn Zaubersprüche zu lehren.
Obwohl die bereits erwähnten alten Weissagungen auch behaupten, Wohl und Wehe von Soodland sei an das uralte Geschlecht der Sirilim gebunden, nimmt es kaum wunder, wenn die furchtbaren Ereignisse, die das bis dahin unbeschwerte Leben der kaum sechsjährigen Knaben wie mit dem Henkersbeil beenden sollten, ebenfalls dem »Fluch der König i n« zugesprochen wurden. Diese Deutung fand reichlich Nahrung durch die Intrigen von Wikander, dem zwei Jahre älteren Bruder des Großkönigs. Von Rechts wegen hätte der Erstgeborene Soodlands Thron besteigen müssen, aber Grinwald, sein Vater, sah in dem aufbrausenden Wesen seines Ältesten eine ernste Gefahr für das Reich und trat daher noch zu Lebzeiten die Herrschaft an Torlund, den jüngeren Sohn, ab. Dem Älteren gab er zum Ausgleich das Elderland mit seiner Hauptstadt Timmerburg, ein Fürstentum, dessen Wohlstand sich auf Holz, Fisch, edle Felle und Bernstein gründete. Obwohl diese weisen Entscheidungen den sechs Königreichen eine Epoche des Friedens bescherten, gärten in Wikander Neid und Groll. Er fühlte sich betrogen. So begann der unsägliche Bruderzwist, der einmal ganz Mirad an den Rand des Abgrundes führen sollte.
Wikander zog seine Fäden im Hintergrund. Er scharte Anhänger um sich, spann Intrigen, streute Gerüchte. Ein ums andere Mal blähte er die Schwächen seines Bruders auf oder erfand neue hinzu, um Torlund beim Volk zu verunglimpfen. Vania bezeichnete er als Hexe, die mit ihrer Brut die sechs Reiche ins Verderben stürzen würde. Geschickt benutzte er Halbwahrheiten, um seine Behauptungen zu stützen. Als nämlich die Sirilim noch zahlreich waren, fiel sogar in Soodland selten Schnee. Selbst im Winter war es angenehm mild. Aber mit dem Verschwinden der Schönen ging das Zeitalter der Wärme zu Ende und Wikander wurde nicht müde, hinter vorgehaltener Hand vom »kalten Fluch der Sirilim« zu reden, für den er Vania persönlich verantwortlich machte. An ihrem Gatten bemängelte er die Friedfertigkeit. Torlund ermutige durch seine Schwäche nur die Feinde außerhalb des Sechserbundes, über kurz oder lang werde es Krieg geben, prophezeite Wikander. Tatsächlich hatte es an den Grenzen des Stromlandes einige blutige Überfälle der Salbacken gegeben. Allerdings wurde gemunkelt, das wilde Steppenvolk sei mit dem Gold Wikanders zu den Mordbrennereien gedungen worden.
Als der Ränkeschmied merkte, dass alle Verleumdungen nicht den gewünschten Erfolg brachten, ging er zur offenen Rebellion über. Es war der Morgen nach der Frühjahrstagundnachtgleiche des Jahres 5989, als der Kampf um die Sooderburg begann. Gewöhnlich liegt die Insel mit ihren nun kurzen, heißen Sommern, den stürmischen Herbsttagen und den langen, dunklen Wintern um diese Zeit noch unter einer dichten Schneedecke. An diesem Morgen begann sich das makellose Weiß rot zu färben. Fünf Tage lang tobte der blutige Kampf um die Festung. Der Großkönig verfügte über eine st a rke Leibwache, die als unbezwingbar galt. Aber Wikander war auf der
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