Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Ergil schaudern. Bisweilen wurden die Leichname Verstorbener auf ähnliche Weise aufgebahrt, damit die Angehörigen von ihnen Abschied nehmen und die Lieben in bester Erinnerung behalten konnten. Die sorgfältig ausgelegten Haare, die kunstvoll drapierten Falten des weiten Kleids…
Nein!, gebot er seinen rebellierenden Gefühlen Einhalt. Denk nach! Etwas stimmt nicht an diesem Bild. Der Palast war, abgesehen von seiner Mutter, verlassen. Niemand hätte sie so auf den Diwan betten können. Sie musste es aus eigener Kraft getan haben, weil sie hoffte, dass jemand sie so finden und aus den Zeichen die richtigen Schlüsse ziehen würde. Aber welche?
Wenn er sich ihr doch bemerkbar machen könnte! Es weilte ja nur sein forschender Sinn in dem Pavillon. Direkt über ihrem Gesicht zu schweben, in ihre strahlend grünen Augen zu blicken und trotzdem für sie unsichtbar zu sein, war für Ergil fast unerträglich. Und wenn er…?
Warum nicht?, dachte er. Was Mutter getan hat, das schaffe ich auch. Ich muss nur leibhaftig die Falte durchstoßen, die meine Welt von der ihren trennt. Wenn ich zu ihr gehe, kann ich sie mit meinen Händen berühren, sie küssen und umarmen. Ich wäre imstande, sie gründlich zu untersuchen und ihr, sofern sie noch lebt, vielleicht sogar zu helfen.
Noch nie hatte er einen solchen Wechsel gewagt. Doch wie ein Kind nicht üben muss, geboren zu werden, tat Ergil instinktiv das Richtige, um seinen Körper dem Geist folgen zu lassen. Es war, als zwänge er sich durch einen engen Türspalt. Trotz der Anstrengung hatte er binnen kurzem die Hälfte des Übertritts geschafft. Aber dann blieb er plötzlich stecken.
Einem normalen Menschen mag die Vorstellung, zwischen zwei Daseinsstufen festzuklemmen, absurd erscheinen. Aber Ergil war alles andere als normal. Einerseits spürte er deutlich das Nachlassen von Múrias Kraft, was ihn aber schlimmstenfalls behindert, jedoch kaum aufgehalten hätte. Schwerwiegender war eine andere, ganz und gar erschreckende Erkenntnis, die ihn wie ein Raubtier aus dem Hinterhalt seines Unterbewusstseins angefallen hatte: Nicht nur seine Mutter, sondern der ganze Knochenpalast war so starr wie die Gemälde an der Gewölbedecke der Rotunde. Selbst der Bachlauf vor dem Pavillon hatte wie eingefroren gewirkt.
Ohne sich in der Falte vor- oder zurückzubewegen, ließ Ergil seinen Blick durchs Innere des Pavillons schweifen. Dabei fielen ihm die hauchzarten Vorhänge auf. Einige waren wie von einem Luftzug gebauscht, bewegten sich aber nicht um Haaresbreite. Ein neuerlicher Schauer schüttelte ihn, als er sich über die Bedeutung seiner Beobachtung klar wurde: Nur noch ein halber Schritt und er wäre genauso erstarrt!
Anfangs hatte Vania seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen, doch jetzt durchdrang sein Sinn den vieleckigen Raum als Ganzes. Dabei entdeckte er ein rundes Tischchen links neben dem Diwan. Darauf lag ein Blatt aus feinem Pergament. Rasch ließ er seinen Sinn näher schweben. Die wenigen Zeilen der Nachricht waren mit schwarzer Tinte und erkennbar zittriger Hand geschrieben worden. Beim Lesen verschlug es ihm den Atem.
Lieber Ergil!
Du wunderst dich, mein Sohn, weil ich diesen Brief an dich und sonst niemand anderen richte. Mir fehlt die Muße, es dir zu erklären, denn ich schreibe dir diese Worte, während der Tod seine Hand nach mir ausstreckt. Um die Wirkung von Wikanders Gift zurückzuhalten, bin ich nach Bethgan geflohen. Hier, im »Haus des Gartens«, wo einst meine Ahnen wohnten, gleicht die Zeit einem Gletscher: Sie wirkt wie erstarrt, aber trotzdem schleppt sie sich langsam ins Tal der Vergänglichkeit. Würde ich jedoch in deine Welt zurückkehren, müsste ich in wenigen Augenblicken sterben. Deshalb lass mich hier liegen, bis du das Gegengift besorgt hast. Aber beeile dich! Mir bleibt nicht mehr viel…
Die Mitteilung endete in einer zuerst flacher werdenden, dann steil abfallenden Linie. Vania musste gespürt haben, dass ihr keine Zeit mehr für weitere Erklärungen blieb. So hatte sie wohl mit letzter Kraft das Pergament und sich selbst in jene Falte gerettet, die sie mit einem sich langsam ins Tal schiebenden Gletscher verglich.
Ergils Blick wandte sich wieder der Mutter zu, die wie aus Eis gemeißelt auf ihrem Diwan lag, und er fühlte einen kalten Schmerz in seinem Herzen. Jetzt begriff er, warum sich hier anscheinend nichts bewegte. Er hatte schon einmal, beim Aufspüren der Silberginkgo, des Schiffes von König Jazzar-siril, eine
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