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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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Cambridge, dabei hatte er nur Zimmer im College angemietet und wusste vermutlich nicht das Geringste über Abflussrohre. All seiner Vornehmtuerei zum Trotz eilte er nachher bestimmt geradewegs zurück zum Trinity College, um alles über das Anwesen ihres Onkels in Carys Atlas in Erfahrung zu bringen.
    Zum Glück stand Mary ihre Empörung nicht ins Gesicht geschrieben, als sie fortfuhr: »Wie überfüllt es hier doch ist. Wissen Sie, ob das hier immer so zugeht?« Zumindest Dr. Nichols merkte ihr nichts an, sondern entspannte sich überraschenderweise. Er mochte es, nach seiner Meinung gefragt zu werden - und tat sie gerne kund, ob man ihn nun darum bat oder nicht -, aber gefragt zu werden, zog er natürlich vor. »Ganz und gar nicht«, erklärte er, »an dem unangenehmen Gedränge heute ist einzig und allein das Pferderennen schuld.«
    »Ein Pferderennen?«, rief Mary. »Hier? Ich meine, in Cambridge?«
    »Aber nein, in Newmarket. Der Wettkampf wird schon lange sehnsüchtig erwartet, wie man mir sagte. Deshalb versucht, wer in Pferde vernarrt ist oder den Drang verspürt, sich einer großen Summe Geldes zu entledigen - also fast jeder hier -, dorthin zu kommen, egal wie.«
    »Oje«, seufzte Mary, »dann wird es wohl schwierig werden, einen Platz in der Kutsche zu bekommen.«
    »So gut wie unmöglich, würde ich sagen. Aber Sie dürften doch keinerlei Interesse haben, einem derartig grobschlächtigen Spektakel beizuwohnen. Ich würde es Ihnen jedenfalls nicht empfehlen.«
    »Interessieren könnte es mich schon«, konterte Mary, wenn auch nur, um keine Empfehlung von ihm anzunehmen, »aber ich muss ohnehin nach Newmarket kommen, weil es auf dem Weg nach Suffolk liegt.«
    »Aber natürlich.« Dr. Nichols hatte Suffolk völlig vergessen oder Mary erst gar nicht richtig zugehört. »Heute ist sicher nicht der richtige Tag, um nach Newmarket zu reisen«, entschied er. »Ich lege Ihnen nahe, die Reise auf morgen oder nächste Woche zu verschieben.«
    Mary dachte an die ganz und gar nicht begeisterten Worte ihrer Schulleiterin, als sie um eine Beurlaubung nachgesucht hatte. Wenn sie jetzt kehrtmachte, wäre es beim nächsten Mal noch schwerer und … es war ein Eingeständnis von Schwäche, vor dem ersten Hindernis zu kapitulieren. »Meine Abreise zu verschieben käme mir sehr ungelegen«, entgegnete sie so ruhig wie möglich.
    Dr. Nichols erinnerte sich, dass Miss Finch eine durchaus eigensinnige junge Frau war - sie würde sich nicht dreinreden lassen, egal, was er ihr in seiner Weisheit auch vorschlagen mochte. Deshalb zuckte er nur mit den Achseln, um seine Hilflosigkeit angesichts ihrer Unzulänglichkeit deutlich zu machen, und merkte an, sie täte gut daran, sich jetzt um einen Platz zu bemühen.
    »Ja, das sollte ich wohl«, stimmte sie zu. Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, erhob sie sich und schob sich in eine Lücke im bunten Gewimmel. Dr. Nichols empfand dies als höchst unhöflich, denn so vermochte er ihr gar nicht mehr seine letzte Warnung mit auf den Weg zu geben: Frauen sollten nicht allein in öffentlichen Kutschen reisen. Stattdessen spitzte er jetzt die Lippen, sagte zu dem leeren Stuhl neben sich »Guten Tag« und empfahl sich.
    Mary bahnte sich den Weg zur Schankstube und erreichte dann endlich den Tresen. Dort bestätigte ihr der Wirt Dr. Nichols’ Prophezeiung: In der Kutsche nach Ipswich waren zumindest bis Newmarket alle Plätze belegt. Schon bald drängte sich ein Trupp Männer in langen Reitmänteln vor und wetteiferte mit Mary um die Aufmerksamkeit des Wirts, sodass eine Verständigung danach nur noch möglich war, indem Mary und der Wirt sich anschrien.
    »Oh!«, entfuhr es ihr, als ein bulliger Mann sich an ihr vorbeidrängte.
    »Einfach eher buchen«, brüllte der Wirt, servierte drei überschäumende Humpen und wischte den Tresen. »Schon gut. Hab euch gehört. Zwei Pints Old Reliable.«
    »Ja, aber was soll ich denn jetzt machen? Wann fährt denn die nächste Kutsche?«
    »Übermorgen.«
    »Wie bitte? Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«
    Der Wirt wischte sich die Hände ab und warf einen Blick in seine Kladde, wobei er den Finger die Seite von oben bis unten entlanggleiten ließ. »Tut mir leid, Miss, ich kann nichts - nein, is ja Mumpitz. Ich hab noch’nen freien Platz in der Postkutsche nach Norwich.«
    »Aber ich möchte doch nach Ipswich!«, erwiderte Mary, während ein Mann sich über ihre Schulter beugte, um sein Getränk zu holen, sodass sie sich am Tresen festhalten

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