Miss Seeton kanns nicht lassen
weiter gekannt, und nach dem wenigen, was man von ihm gesehen hatte, hätte man auch wohl keinen Wunsch dazu verspürt. Die Schädellänge – natürlich zusammen mit dem Epikanthus – deutete nach ihrer Erfahrung nicht auf den allerbesten Charakter hin. Für die Polizei stand es anscheinend fest, daß er der Bankkassierer war, und das war ja auch durchaus möglich. Sie hatten es sogar dadurch bewiesen, daß sie seine Fingerabdrücke nahmen und seine Haftschalen entfernten. Eine fabelhafte Erfindung – aus Deutschland, soviel sie wußte, obgleich es diese Gläser jetzt auch in England gab. Und der Schnurrbart sei auch falsch gewesen, hatten sie gesagt: ein weiterer Beweis. Sie hatten auch angenommen, daß sie – Miss Seeton – das alles wußte und immer gewußt hatte. Bißchen merkwürdig, denn woher sollte sie? Wie konnte sie das gewußt haben? Aber da sie so überzeugt davon waren und auch gerade soviel um die Ohren hatten und außerdem alle so besorgt waren, weil sie da oben auf dem Dach stand, da hatte sie nichts weiter davon gesagt. Tatsächlich aber hatte der Mann doch gesagt, er sei der Bruder von dem andern. Es war alles sehr schwierig und, offen gesagt, auch unerfreulich. Die Colvedens waren stets so rücksichtsvoll, so freundlich und großzügig, daß sie alle diese Liebenswürdigkeiten zu gern einmal erwidert hätte. Bloß womit, das war die Schwierigkeit. Angefüllt mit freundlichen Gedanken und guten Vorsätzen machte sich Miss Seeton auf den Weg.
Seltsam: Der Eingang war nicht erleuchtet. Soviel sie wußte, ließ man die Lampe über dem Eingang stets brennen, bis die Familie zu Bett ging. Heute brannte sie nicht. Es war überhaupt nirgends Licht. Miss Seeton tastete sich vorwärts. Sehr unachtsam: Sie hatte heute morgen vergessen, eine neue Batterie für die Taschenlampe auf ihre Einkaufsliste zu setzen. Ob sie wohl aus waren? Das sähe ihnen eigentlich nicht ähnlich und wäre wohl auch etwas sonderbar. Am besten jetzt also mal läuten. Die Glocke, das fiel ihr jetzt ein, hatte so einen Griff, an dem man zog. Sie war doch rechts von der Tür? Oder links? Sie suchte mit der Hand, fand sie aber nicht. Aber sie stellte fest, daß die Tür offen stand. Die Haustür offen, an so einem kalten Abend? Das war doch gewiß nicht das richtige. Eigentlich konnte man ja nicht so ohne weiteres in ein fremdes Haus eindringen, aber… Vielleicht sollte sie einfach mal Licht machen, um zu sehen, daß alles in Ordnung war. Sie strich mit der Hand über die Wand, fand aber keinen Lichtschalter. Jetzt kam aus der Küche der Geruch des Essens; das beruhigte sie. Erst mal den Weg in die Küche finden. Sie wußte noch, er führte durch den Korridor, dann nach rechts, gleich hinter der Treppe. Den Schirm vor sich her haltend, ging sie auf Zehenspitzen weiter. Gleich darauf sank die Schirmspitze in etwas Weiches ein, das einen stöhnenden Laut von sich gab.
»Verzeihung«, sagte Miss Seeton verwirrt.
Ein Schreckensschrei ertönte, etwas schwang herum, und jemand schoß an ihr vorbei durch die offene Haustür, dann hörte sie hastende Schritte in der Einfahrt. Über ihr klirrte es, irgend etwas fiel zu Boden und polterte die Treppe herunter. Füße jagten hinterher, stolperten eilig in der Dunkelheit an ihr vorbei und folgten dem ersten Flüchtenden nach draußen. Zwei Motoren wurden angelassen, heulten auf und verklangen in der Entfernung.
Von irgendwo kam lautes Klopfen und Rufen. Genau wie auf der Poststelle damals, dachte Miss Seeton. Sie war jetzt sicher: hier war nicht alles in Ordnung. Wenn sie bloß sehen könnte. Sie stieß mit dem Schirm an einen Tisch und streckte die Hand danach aus, um die Oberfläche abzutasten. Sie probierte mehrere Gegenstände. Irgendwo – ja, hier – war eine Tischlampe, die sie jetzt anknipste. Jetzt hörte sie, das laute Klopfen kam aus einem Raum hinter der Tür rechts, gleich neben der Küche. Sie probierte: Die Tür war verschlossen. Sie drehte den Schlüssel um, und Sir George und Nigel drängten heraus, gefolgt von Lady Colveden.
»Es tut mir sehr leid, daß es so lange dauerte«, entschuldigte sich Miss Seeton. »Ich konnte das Licht nicht finden.«
»Immer habe ich gesagt: Schlüssel sind altmodisch«, sagte Lady Colveden. Sie steckte den Schlüssel wieder an den richtigen Platz und schloß die Tür. »Ein Riegel wäre besser gewesen – von drinnen. Sicherer und praktischer.«
»Eine dreisitzige Brille scheint mir wichtiger«, meinte Nigel.
Für Formalitäten war ihnen
Weitere Kostenlose Bücher