Miss Seeton kanns nicht lassen
da waren mit pastellfarbenen Übergängen an Farbe und Erfahrung, wenn die Hoffnungen erfüllt oder gestorben waren. Es war wohl eine Frage des Alters.
Vor ihr lag eine ruhige Aussicht. Der Garten fiel sanft ab bis zum Royal Military Canal, der trotz des martialischen Namens in fast der ganzen Länge kaum mehr als ein breiter Graben war. Jenseits der Bäume am Kanal sah man die Felder von Kent, flach bis zur Küste: Im Westen lag Rye, im Osten New Romney.
Wieder wandte sie sich dem Zeichenblock zu, nahm das oberste Blatt ab und legte es beiseite. Dann ordnete sie die Zeichenstifte und suchte einen weichen Bleistift aus.
Ein neuer Versuch. Unsinnig, sich einzubilden, daß hier irgendwas nicht stimmte. Nichts als Mangel an Konzentration. Sie mußte sich konzentrieren.
Sie konzentrierte sich also und betrachtete dann das Resultat. Liebe Zeit. Zu dumm – dies war nun der dritte Versuch, und er war kein Jota besser als die andern.
Sie nahm die beiden ersten und legte alle drei nebeneinander auf den Tisch. Dann deckte sie die rechte Hälfte jeder Zeichnung mit weißen Papierbogen ab; übrig blieben drei Halbporträts desselben Kindes mit den gleichen strähnigen Haaren, dicken Backen und Knopfaugen, dem gleichen schlauen hochgezogenen Mundwinkel, dem gleichen oliven-farbenen Teint. Sie legte die Deckbogen auf die andere Gesichtshälfte und hatte nun dreimal die gleichen verwischten und undeutlichen Konturen vor sich, das gleiche halboffene Schlitzauge, den gleichen heruntergezogenen Mundwinkel und die gleiche grün-bläuliche Färbung. Die gleiche Totenmaske. Sie nahm die Deckbogen ab und ließ die Zeichnungen offen liegen. Jede für sich war bedenklich. Alle drei zusammen waren makaber.
Was sollte sie bloß tun? Sie hatte doch Mrs. Goffer ein Porträt ihrer Tochter zugesagt. Natürlich nicht eindeutig versprochen, denn sie hatte allmählich gelernt, daß solche direkten Wege in einem Dörfchen wie Plummergen undenkbar waren. Aber nach dem letzten Hausputz hatte Martha beim Abschied erwähnt, sie habe beim Einholen Mrs. Goffer getroffen, und Mrs. Goffer habe ganz nebenbei bemerkt, sie hätte eigentlich nichts dagegen, wenn jemand mal eine kleine Zeichnung von Effie machte, da wäre doch eigentlich nichts dabei, nicht wahr, und Martha fand auch: Warum eigentlich nicht?
Warum eigentlich nicht: Dafür gab es drei triftige Gründe, und die lagen hier auf dem Tisch.
Es war unmöglich, Mrs. Goffer eines dieser Bilder auch nur zu zeigen. Sie waren – sie waren einfach schrecklich. Zugegeben: ähnlich waren sie, das war aber hier nicht gerade ein Vorteil, denn ehrlich gesagt war Effie Goffer leider ein ausgesprochen reizloses Kind. Miss Seeton hatte also Martha keine direkte Zusage gemacht; sie fühlte sich aber andererseits irgendwie verpflichtet, denn Putzfrauen waren heute nicht leicht zu finden, und Mrs. Goffer hatte bereitwillig zweimal wöchentlich ausgeholfen, als Martha verreist war. Und deshalb hatte sie nun das Gefühl, ihr etwas zu schulden. Und zwar etwas Besseres als diese drei Skizzen hier. Sinnend betrachtete sie die Zeichnungen. Jedesmal war ihr die linke Seite – die in Wirklichkeit Effies rechte Seite war – mühelos gelungen. Aber wenn sie dann zur rechten – also Effies linker – Seite kam, dann ging’s los. Beim erstenmal hatte sie es erst hinterher gemerkt, aber beim zweiten- und drittenmal hatte sie eigens aufgepaßt: Ihre Hand verlor die Leichtigkeit, die Finger wurden fast taub, und der Arm fühlte sich bleiern schwer an. Und sie merkte, wie etwas sie zwang – ja, tatsächlich zwang –, die falschen Farben zu nehmen. Ob es vielleicht etwas mit ihr selbst zu tun hatte? Wenn man Kummer hatte, war es immer das beste, der Sache ins Auge zu sehen und sie in Worte zu fassen.
Sie setzte sich aufrecht hin und machte sich bereit, der Sache ins Auge zu sehen und sie in Worte zu fassen.
Ob sie vielleicht einen…? Vielleicht sollte sie Dr. Knight fragen? Er konnte ihr raten oder eine Behandlung empfehlen, wenn es wirklich DAS gewesen war… Lächerlich.
Sie nahm einen Bleistift und schrieb mutig mit großen Buchstaben auf ein Blatt Papier: SCHLAGANFALL.
So – das war besser. Jetzt war es heraus, und man hatte es sichtbar vor sich. Wenn es nämlich wirklich DAS gewesen war – sie besah sich das Wort und nickte ihm zu –, womit man in ihrem Alter ja immerhin rechnen mußte, dann müßte es sich doch gewiß auch auf andere Weise zeigen. Dann war man nicht mehr zu allem fähig, was man jetzt noch
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