Miss Wyoming
wahrscheinlich würde irgend jemand aus der Familie das Balg klauen und es gegen einen Packen unbenutzter Rubbellose eintauschen. Und Sie?« Mit sonorer Fernsehansagerstimme deklamierte er: »Familie Lodge aus Delaware. ›Der Pestizid-Clan. ‹ « Er wechselte wieder in seine normale Tonlage. »Mein Urgroßvater mütterlicherseits hat eine Chemikalie entdeckt, die den Fortpflanzungszyklus einer Milbenart unterbricht, die ganze Maisfelder verseucht.« Eine Ampel sprang auf Grün, Verkehr flutete auf den Boulevard, und die beiden gingen weiter. Susan war in einen hellen, leichten Stoff gehüllt, kühl und bequem wie die Siegerschärpe bei einem Schönheitswettbewerb. John schwitzte wie ein Limonadenkrug, seine Jeans, sein Gingham-Hemd und seine schwarzen Haare absorbierten die Hitze wie Steine in der Wüste. Aber anstatt nach einer Klimaanlage und einem Spiegel Ausschau zu halten, zog John nur sein Hemd aus der Hose und bemühte sich, mit Susan Schritt zu halten.
»So großkotzig, wie die sich an der Ostküste aufgespielt haben, hätte man meinen können, unsere Familie habe die Atombombe erfunden. Aber dann haben sie etwas wirklich Abartiges getan.«
»Und zwar?«, fragte Susan.
»Sie haben sich mit der Kettensäge über ihren eigenen Stammbaum hergemacht. Gnadenlos. Alle, die gesellschaftlich nicht ihren Ansprüchen genügten, wurden gestrichen. Es war, als hätten sie nie gelebt. Ich habe Dutzende von Großonkeln und Tanten, Cousins und Cousinen, die ich nie kennen gelernt habe. Ihr einziges Vergehen war, dass sie in bescheidenen Verhältnissen lebten. Ein Großonkel von mir war Gefängniswärter. Ausgemustert. Ein anderer hat eine Frau geheiratet, die einen nicht allzu vornehmen Akzent sprach. Kaltgestellt. Und der Himmel sei jedem gnädig, der einmal ein anderes Familienmitglied beleidigt hat. In unserer Familie wurde niemand zur Rede gestellt oder bestraft. Er wurde bloß ausradiert.« Sie schwiegen. Inzwischen waren sie vielleicht eine Meile gelaufen. John fühlte sich Susan so nah wie die Farbe einer Wand. Er bat: »Erzählen Sie mir mehr, Susan. Egal, was. Ihre Stimme gefällt mir.«
»Meine Stimme? Die kann man zu fast jeder Tageszeit überall auf der Welt hören. Man braucht nur eine Satellitenschüssel, die Sender empfängt, auf denen in einer Tour beknackte Fernsehserien der frühen Achtziger laufen.« Sie waren an einem Plattenladen angelangt. Zwei original '77er Punkfossile mit Irokesenschnitt gingen vorbei.
John schaute Susan an und sagte: »Susan, haben Sie schon mal ein Gesicht gesehen - zum Beispiel in einer Zeitschrift oder im Fernsehen -, das Sie nicht mehr losgelassen hat? Vielleicht haben Sie sogar insgeheim gehofft, dass Sie eines Tages, wenigstens einmal, dem Menschen begegnen, der hinter dem Gesicht steckt?« Susan lachte. »Heißt das ja?«
»Wieso fragen Sie?«
John erzählte Susan von einer Vision, die er im vergangenen Jahr im Cedars-Sinai Medical Center gehabt hatte. Sie hatte ihn veranlasst, sein Leben so drastisch zu ändern. Er gestand Susan, dass diese Erscheinung ihr Gesicht, ihre Stimme gewesen war. »Aber dann, Monate später, als ich mein altes Leben bereits komplett über Bord geworfen hatte, stellte ich fest, dass ich in Wirklichkeit gar keine große, mystische Vision in Dolby-THX gehabt hatte. Mir wurde klar, dass bloß irgendeine alte Folge dieser Serie, in der Sie mitgespielt haben, im Fernseher an meinem Krankenhausbett gelaufen war. Und die muss mit meinen Träumen verschmolzen sein.« Es erschien Susan irgendwie folgerichtig, dass dieser Mann mit den traurigen, blassen Augen, die aussahen wie verschneite Fernsehbilder, in ihr seine Rettung gesehen und sie dann tatsächlich gefunden hatte. Sie hatte schon Vorjahren aufgehört, ans Schicksal zu glauben. Die Vorstellung, es gäbe eine Vorsehung, kam ihr albern vor. Aber bei John verspürte sie wieder dieses längst verloren geglaubte schicksalhafte Prickeln. Ein Laubsauger schreckte die beiden auf, und gerade als John seine Stimme erheben wollte, kam in der Ferne zwischen einer Zypressenallee und einer Werbetafel für Schwülen-Kreuzfahrten die Cedars-Sinai-Klinik in Sicht. Da Johns Hemd inzwischen völlig durchgeschwitzt war, machten sie bei einem Drugstore Halt und kauften ein weißes Baumwoll-T-Shirt in XXL mit der Aufschrift I LOVE L.A. sowie zwei Flaschen Wasser. Er zog sich auf dem Parkplatz unter den amüsierten Blicken zweier halbwüchsiger Jungs um. »Glamourboy lässt Laufsteg rocken!«, johlten sie.
John
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