Miss Wyoming
ein altes Agenturfoto von ihr hinter dem Kopf des Moderators auf dem Bildschirm erschien. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie für dieses Foto Modell gesessen hatte. Ihr Mann Chris, der Rockstar, hatte hinter dem Fotografen gestanden und komische Geräusche gemacht. Sie war froh, Chris, den Castings und den bösartigen Artikeln in der Boulevardpresse entronnen zu sein. Moment mal - wo war sie überhaupt? In Ohio? In Kentucky? Sie stand auf, um auf der kleinen Anrichte neben der Haustür nach Post zu sehen. Seneca, Ohio. Gut.
Sie kehrte zur Couch zurück, weil sie mehr über ihren angeblichen Tod hören wollte, und überlegte, wie lange die Polizei wohl brauchen würde, um die Leichenteile und Zahnfragmente einander zuzuordnen und festzustellen, dass sie nicht unter den Toten war. Sie fragte sich, ob ihr gelöster Sicherheitsgurt auf Platz 58-A sie verraten würde.
Sie schlief auf der Couch ein und wachte am nächsten Morgen hungrig und erwartungsvoll auf. Der Fernseher lief noch, und als sie durch die Programme surfte, begriff sie den Sinn der Behauptung, dass das Letzte, was wir im Leben herausfinden, ist, welche Wirkung wir auf andere haben. Außerdem konnte sie mit ernüchternder Präzision berechnen, welchen Rang sie in der Entertainment-Hölle eingenommen hatte:
- »Gab mittelmäßige Schauspielkarriere für die Trashwelt des Rock 'n' Roll auf.«
- »Provinzblume will hoch hinaus und fällt tief.«
- »Intelligent, aber so manche Fehlentscheidung getroffen.«
- »Als Frau eines Rock 'n' Roll-Playboys schwer gestraft.«
- »Spielte kürzlich eine kleine, schwachsinnige Rolle in einem kleinen, schwachsinnigen Film.«
Auf CNN sah sie, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater auf dem Rasen vor ihrem Haus in Cheyenne interviewt wurden. Marilyn hielt sich ein gerahmtes Foto von Susan vor den Bauch, als verberge sie eine Schwangerschaft. Es war ein frühes Teenagerfoto, aufgenommen etwa drei Minuten bevor sie berühmt wurde, kurz bevor ihre Welt aus den Fugen geriet wie ein explodierendes Raumschiff in einem Film. Ihr Stiefvater, Don, stand mit ernster Miene und verschränkten Armen da. Beide sprachen über Susans Tod, beide murmelten »Kein Kommentar« auf die Frage, ob sie die Fluggesellschaft verklagen würden. Es folgte ein zehnsekündiger Ausschnitt aus der Fernsehserie Meet tbe Blooms, in der Susan jahrelang die »liebe« Tochter Katie gespielt hatte, ihre bekannteste Rolle. Danach deklamierte der Nachrichtensprecher salbungsvoll: »Susan Colgate - Schönheitskönigin, Kinderstar, Frau eines Rockstars und liebende Tochter. Jetzt scheint ihr Stern am Himmel«, worauf Susan tief Luft holte und »Huah« sagte. Sie machte sich einen Orangensaft aus gefrorenem Konzentrat und richtete sich dann auf einem Teller gekochte Tiefkühlerbsen in einer Pfütze aus geschmolzener Margarine an, dazu zwei gut durchgebratene Frikadellen mit Thousand-Island-Dressing und zwei mit einer umgeklappten Scheibe Schmelzkäse belegte Brötchen. Diese Mahlzeit erinnerte sie daran, wie sie als Kind wegen einer Blinddarmoperation im Krankenhaus gelegen hatte, und diese Regression war ihr bewusst. Auf CNN wurden keine wirklich neuen Bilder gesendet. Sie nahm an, dass man sie schon morgen nicht mehr erwähnen würde, und bis zum darauf folgendem Tag würde die Wunde in der kollektiven Erinnerung der Nation völlig verheilt sein. Die Welt würde sie vergessen, und sie würde die Welt vergessen. Was für eine Spur sie auch immer hinterlassen haben mochte, sie würde so schnell verschwinden wie ein Schnitt von einem Blatt Papier. All die Arbeit, Zeit und Energie, die sie darauf verwendet hatte, eine glaubwürdige Susan Colgate zu sein - alles umsonst.
Sie stellte den Fernseher ab und probierte im ersten Stock ein paar von Karen Galvins Sachen an, die zwar ihre Größe hatten, ihr aber ein bisschen zu sportlich waren. Sie entdeckte ein paar einigermaßen hübsche Schmuckstücke - der Geschmack ihres Mannes vielleicht?
Ein paar Tage später sah Susan bei Entertainment Tonight einen Teil des Gedenkgottesdiensts, der ihr zu Ehren abgehalten wurde. Chris Thraice war aus Deutschland eingeflogen worden, um mit den Trauergästen in der Westwood Memorial Chapel eine peinliche Rock-Version von »Amazing Grace« zu singen, die klang wie eine Live-Aid-Kuschel-Hymne. Susan schämte sich für die geistlose, abgeschmackte Trauerfeier, die von Gott weiß wem arrangiert worden war - vermutlich von Chris' Leuten -, aber dann dämmerte
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