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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wenn du mich nur gefunden und in die Arme genommen hättest, dann wäre der Alptraum zu Ende gewesen und alles wäre wieder so geworden, wie es früher einmal war. Aber es gelang mir nie, diesen Schrei auszustoßen. Und so verfehltest du mich in der Dunkelheit und gingst immer geradeaus weiter, an mir vorbei, und verschwandst. Jedesmal lief es so ab. Aber dennoch waren diese Träume mir eine Hilfe und ein Trost. Zumindest wußte ich, daß ich noch imstande war zu träumen.
    Daran konnte mich mein Bruder nicht hindern. Ich spürte, daß du alles in deiner Macht Stehende tatst, um mich näher an dich heranzuziehen. Vielleicht würdest du mich eines Tages finden und mich an dich drücken, allen Schmutz, der an mir klebte, von mir wischen und mich für immer von diesem Ort fortholen. Vielleicht würdest du den Fluch zerschlagen und ein für allemal besiegeln, daß mein wahres Ich nie wieder fortgehen müßte. Nur dadurch schaffte ich es, an diesem kalten, dunklen Ort eine winzige Flamme der Hoffnung am Leben zu erhalten - mir einen leisen letzten Hauch meiner eigenen Stimme zu bewahren. Heute nachmittag habe ich das Paßwort für diesen Computer erhalten. Jemand hat es mir per Kurier geschickt. Ich sende dir diese Botschaft vom Rechner im Büro meines Bruders aus. Ich hoffe, daß sie dich erreicht.
     
    Die Zeit drängt. Das Taxi wartet draußen auf mich. Ich muß jetzt ins Krankenhaus fahren, um meinen Bruder zu töten und meine Strafe auf mich zu nehmen. Seltsam, ich hasse meinen Bruder gar nicht mehr. In dem Wissen, daß ich sein Leben aus dieser Welt austilgen muß, bin ich völlig ruhig. Auch um seinetwillen muß ich es tun. Und um meinem Leben einen Sinn zu geben. Sorge gut für den Kater. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin, daß er wieder da ist. Du sagst, er heißt Oktopus? Das finde ich gut. Er war immer ein Symbol von etwas Gutem, das zwischen uns heranwuchs. Wir hätten ihn damals nicht verlieren dürfen.
     
    Ich kann jetzt nicht mehr weiterschreiben. Leb wohl.

39
    L EBWOHL
     
    »Es tut mir so leid, daß ich Ihnen die Entenleute nicht zeigen konnte, Mister Aufziehvogel!«
    May Kasahara sah aus, als tue es ihr wirklich leid.
    Sie und ich saßen am Teich und sahen auf seine dicke Eiskappe. Es war ein großer Teich, mit Tausenden von feinen Schlittschuhschrammen überzogen. May Kasahara hatte sich an diesem Montagmorgen eigens meinetwegen freigenommen. Ich hatte sie eigentlich am Sonntag besuchen wollen, aber wegen eines Zugunglücks hatte ich mich um einen Tag verspätet. May Kasahara trug einen pelzgefütterten Mantel. Ihre leuchtend blaue Wollmütze mit dem kleinen Bommel hatte ein geometrisches Muster aus weißem Garn. Sie hatte die Mütze selbst gestrickt, und sie hatte gesagt, sie würde noch vor dem nächsten Winter genau so eine für mich stricken. Ihre Wangen waren rot, ihre Augen so leuchtend und klar wie die Luft, die uns umgab, und das machte mich sehr glücklich: Schließlich war sie erst siebzehn - noch waren ihre Möglichkeiten, sich zu verändern, so gut wie unbegrenzt. »Als der Teich zugefroren ist, sind die Entenleute alle woandershin gezogen. Sie hätten sie bestimmt gemocht. Kommen Sie doch einfach im Frühjahr wieder, okay? Dann mache ich Sie mit ihnen bekannt.«
    Ich lächelte. Ich trug einen Dufflecoat, der eine Spur zu dünn war, hatte mir einen Schal bis über die Nase gewickelt und beide Hände tief in die Taschen gesteckt. Durch den Wald zog eine eisige Luft. Der Boden war mit hartem Schnee bedeckt. Mit meinen Turnschuhen kam ich ständig ins Schlittern. Ich hätte mir für diese Reise besser rutschfeste Stiefel kaufen sollen. »Dann bleibst du also noch eine Weile hier?« fragte ich.
    »Ich denk schon. Wenn genug Zeit vergangen ist, möchte ich vielleicht die Schule zu Ende machen. Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß nicht. Vielleicht könnte ich auch einfach heiraten - nein, das wohl nicht.« Sie lächelte hinter einem weißen Atemwölkchen. »Aber wie auch immer, einstweilen bleibe ich hier. Ich brauch mehr Zeit zum Nachdenken. Darüber, was ich machen will, wo ich hinwill. Ich will mir Zeit lassen und über diese ganzen Dinge nachdenken.« Ich nickte. »Vielleicht solltest du das wirklich tun«, sagte ich. »Sagen Sie, Mister Aufziehvogel, als Sie in meinem Alter waren, haben Sie da auch über solche Dinge nachgedacht?«
    »Hmm. Vielleicht nicht. Ein bißchen muß ich wohl darüber nachgedacht haben, aber ich kann mich eigentlich nicht erinnern, daß

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