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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Mister Aufziehvogel. Ich hab meine Zweifel, daß ich es kann, aber hier kommt’s.
    Also, um die Sache kurz zu machen, ich bin plötzlich in Tränen ausgebrochen. Ich meine, wenn das hier ein Drehbuch wäre oder so, dann würd da stehen: » May Kasahara: Schlägt sich unvermittelt Hände vor das Gesicht, schluchzt laut auf, bricht weinend zusammen. « Aber erschrecken Sie jetzt nicht zu sehr. Ich hab’s Ihnen die ganze Zeit verheimlicht, aber Tatsache ist, daß ich die größte Heulsuse der Welt bin. Ich heul wegen jeder Kleinigkeit. Das ist meine ganz persönliche Schwäche. Und so war die nackte Tatsache als solche, daß ich völlig ohne Grund in Tränen ausgebrochen war ,für mich nicht weiter überraschend. Aber normalerweise heule ich mich kurz aus, und dann sag ich mir, daß es Zeit aufzuhören ist. Ich weine leicht, aber genausoleicht höre ich auch wieder auf. Heute nacht aber konnte ich einfach nicht aufhören. Der Korken war raus, und es lief. Ich wußte nicht, wie es angefangen hatte, und deswegen wußte ich auch nicht, wie ich damit Schluß machen sollte. Die Tränen kamen einfach so rausgesprudelt, wie Blut aus einer tiefen Wunde. Ich hab’s nicht für möglich gehalten, was für Unmengen Tränen ich da produzierte. Ich hab ernsthaft angefangen, mir Sorgen zu machen, ich könnte völlig austrocknen und zur Mumie verschrumpeln, wenn das noch lange so weiterging. Ich konnte regelrecht sehen und hören, wie meine Tränen in die weiße Pfütze von Mondlicht tropften, wo sie aufgesogen wurden, als wären sie schon immer Teil des Lichts gewesen. Im Fallen fingen die Tränen das Licht des Mondes auf und glitzerten wie wunderschöne Kristalle. Dann fiel mir auf daß auch mein Schatten weinte, klare, scharf umrissene Schattentränen vergoß. Haben Sie je die Schatten von Tränen gesehen, Mister Aufziehvogel? Sie haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Schatten. Nicht die allergeringste. Sie kommen aus irgendeiner anderen, fernen Welt her, eigens für unser Herz. Oder vielleicht auch nicht. Da kam mir der Gedanke, daß die Tränen, die mein Schatten vergoß, die wirklichen sein könnten, und die Tränen, die ich vergoß, bloße Schatten. Ich bin sicher, das ist Ihnen zu hoch, Mister Aufziehvogel. Aber wenn ein nacktes siebzehnjähriges Mädchen im Mondlicht Tränen vergießt, kann alles passieren. Wirklich.
     
    So: das ist also vor ungefähr einer Stunde in diesem Zimmer passiert. Und jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und schreibe Ihnen (angezogen natürlich!) mit Bleistift einen Brief, Mister Aufziehvogel.
    Tschüs, Mister Aufziehvogel. Ich weiß nicht genau, wie ich’s sagen soll, aber die Entenleute im Wald und ich beten darum, daß Sie geborgen und glücklich sein mögen. Wenn Ihnen irgend etwas zustößt, zögern Sie nicht, wieder laut nach mir zu rufen. Gute Nacht.

37
    Z WEIERLEI NEUIGKEITEN
    WAS VERSCHWAND
     
    »Zimt hat Sie hierhergetragen«, sagte Muskat.
    Das erste, was mir beim Aufwachen zu Bewußtsein kam, war Schmerz, in unterschiedlichen verzerrten Formen. Die Stichwunde bereitete mir Schmerzen, und alle Gelenke und Knochen und Muskeln in meinem Körper bereiteten mir Schmerzen. Während ich durch die Dunkelheit geflohen war, mußte ich mit verschiedenen Teilen meines Körpers hier und da angestoßen sein. Und doch war die jeweilige Form dieser unterschiedlichen Schmerzen noch nicht ganz richtig. Sie kamen echtem Schmerz schon ziemlich nah, aber sie ließen sich noch nicht eigentlich als Schmerz bezeichnen.
    Als nächstes wurde mir bewußt, daß ich auf dem Sofa des Anproberaums lag und einen marineblauen Pyjama trug, den ich noch nie gesehen hatte, und daß eine Decke über mich gebreitet war. Die Vorhänge waren aufgezogen, und helle Morgensonne strömte durch das Fenster ins Zimmer. Es mußte ungefähr zehn Uhr sein, schätzte ich. Hier gab es frische Luft und Zeit, die sich vorwärts bewegte, aber warum derlei Dinge existierten, war mir nicht ganz klar. »Zimt hat Sie hergebracht«, sagte Muskat. »Ihre Wunden sind nicht so schlimm. Die an der Schulter ist ziemlich tief, aber zum Glück ist kein größeres Blutgefäß verletzt worden. Die in Ihrem Gesicht sind bloße Kratzer. Zimt hat sie mit Nadel und Faden genäht, so daß keine Narben zurückbleiben werden. Er kann das gut. In ein paar Tagen können Sie sich die Fäden selbst ziehen oder es einen Arzt machen lassen.«
    Ich versuchte zu sprechen, aber meine Stimme verweigerte ihren Dienst. Ich brachte nicht mehr

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