Mit den Augen eines Kindes
Nein, so möchte ich das nicht bezeichnen. Olli zog seine Lehren aus den Nachmittagen mit Opa. Pilot wollte er nie werden, die wurden ja meist erschossen oder kamen sonst wie ums Leben. Das Flammende Inferno lehrte ihn, seine kleinen Finger von Zündhölzern und Feuerzeugen zu lassen. Wir mussten im Urlaub an der Nordsee nicht befürchten, dass er zu weit ins Wasser ging. Er ließ nicht einmal seine Zehen von Wellen umspülen. Es hätte ja ein weißer Hai auftauchen können. Die schwammen gerne da, wo es flach war.
Aus Stephen Kings Cujo zog er den Schluss, dass man um große Hunde besser einen weiten Bogen machte und immer ausreichend Getränke griffbereit im Auto haben sollte. Der Kasten Apfelsaft im Kofferraum nutzte einem nämlich gar nichts, wenn draußen ein tollwütiger Bernhardiner verhinderte, dass man noch ungebissen zum Kofferraum kam.
Auf seine Weise hat mein Vater ihn mit den manchmal blutrünstigen Schinken besser auf Leben und Tod vorbereitet als ich. Er hat ihm gezeigt, dass unsere schöne, bunte Welt an keiner Stelle heil ist, dass überall das Böse lauert. Nur die Sache mit dem Helden, der immer in letzter Minute auftaucht, um die ganze Erde oder wenigstens die bedrohten Menschen zu retten, hätte Opa vielleicht korrigieren müssen.
Ich war nie ein Held. Zuletzt war ich ein Schwein, ein verantwortungsloser Dreckskerl, der alles aufs Spiel setzte, obwohl er den Einsatz kannte oder zu kennen glaubte. Ich will mich wirklich nicht herausreden, nur erklären, um vielleicht irgendwann selbst zu verstehen, wie ich es so weit kommen lassen konnte.
Vielleicht hatte Olli uns einfach schon zu viel geboten, ehe in Kerpen plötzlich ein Dinosaurier sein Unwesen trieb. Schon mit drei Jahren hatte er einen weißen Hai im Neffelbach entdeckt, einem reißenden Strom, der nach Dauerregen eine Wassertiefe von etwa einem Meter hatte, es konnte auch ein Meter zwanzig sein. Opa, der mit Olli an den Gestaden des haiverseuchten Gewässers spazieren gehen musste, sah den Hai natürlich nicht, weil er sich gerade bückte, um seinen Schuh zuzubinden. So war es immer, es gab nur sehr selten Zeugen für die unglaublichen Vorfälle, von denen Olli pro Woche im Durchschnitt drei erlebte, seitdem er so alt war, dass er zusammenhängend berichten konnte.
Keiner sah ET, der beim Kindergarten um Kleingeld bettelte, weil er nach Hause telefonieren wollte. Aber ET versteckte sich ja auch immer, wenn Leute kamen. Nur zu Olli hatte er Vertrauen gefasst. Und das flammende Inferno in Omas Küche verhinderte Olli, weil er geistesgegenwärtig seine neue Wasserpistole lud und löschte, was das Zeug hielt.
Solche Geschichten hatten meist nur einen wahren Kern: Olli war noch gar nicht müde und sah nicht ein, dass er sich nun ganz allein in seinem Zimmer langweilen sollte, während Mama und ich uns vielleicht gemütlich auf der Wohnzimmercouch noch etwas wahnsinnig Spannendes genehmigten und dazu womöglich noch Chips, Schokolade oder gar ein Eis aßen.
Es gab auch andere Storys, durchaus realistisch geschildert, die einem schon einen Schreck einjagen konnten, wenn man sie für bare Münze nahm. Doch damit suchte er für gewöhnlich nur einen Sündenbock für eigene Missetaten oder ein Missgeschick, das er als furchtbar peinlich empfand, weil es einem Jungen in seinem Alter einfach nicht mehr hätte passieren dürfen.
Hanne und ich konnten damit leben, dass ihm in der ruhigen Straße, in der sein Freund Sven Godberg wohnte, wo nun wirklich kein Mensch mit bedrohlichen Vorfällen rechnete, ein tollwütiger Hund ein Loch in die neue Jeans gebissen hatte. Natürlich hatte Cujo auch Ollis Knie erwischt, das war aber nicht so schlimm. Ein Pflaster dafür brauchte er nicht. Und ganz bestimmt keine Spritze gegen Tollwut, die Mama für angebracht hielt, um ihm zu zeigen, dass man nicht ungestraft lügen durfte.
Wir trugen es mit Fassung, dass Rockerbanden vormittags den Kindergarten heimsuchten – nachdem mein Vater sich eine Reportage über die Aktivitäten der Hell’s Angels angeschaut hatte, während Olli ihm Gesellschaft leistete. Und dann verwüsteten die Rocker eben den Gruppenraum und zwangen die friedlich in der Sandkiste spielenden Kinder unter Androhung brutaler Gewalt, sich dermaßen mit Sand zu bewerfen, dass es noch Stunden später wie die Wüste Gobi aus Haaren und Schuhen rieselte und zwischen den Zähnen knirschte. Auf vorsichtige Nachfragen hieß es, unser sanftmütiger Sohn, dem wir noch diverse Ängste unterstellten, habe
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