Mit den Augen eines Kindes
einschlief. Der ältere war damals beim Bund und übernachtete nur am Wochenende daheim.
Wenn ich unter mir die ersten leisen Schnarchtöne hörte, legte ich los, heulte Rotz und Wasser ins Kopfkissen, bis der glühende Ring um die Brust erkaltet war. Gott, tat das weh. Es tat so weh, dass ich allen Ernstes überlegte, ob die Sache nicht doch ihren Preis wert sei. Ein Leben auf der Straße, manchmal wahrscheinlich auch hinter Gittern, plus Obdachlosigkeit der gesamten Familie Metzner für Maren Koska. Ich müsste ihr ja nur einmal in aller Öffentlichkeit demonstrieren, dass ich mich von nichts und niemandem einschüchtern ließ und auf sämtliche bürgerlichen Werte pfiff, dachte ich.
Was mich damals bewog, das Abitur und das Dach über den Köpfen meiner Lieben einer Orgie auf dem Kirchplatz vorzuziehen, war nicht etwa Vernunft. Es war mein älterer Bruder. Er nahm sich einen ganzen Sonntag lang Zeit für ein ausführliches Gespräch unter Männern. Seine gesamte zwanzigjährige Lebenserfahrung warf er in das Spiel um meinen Seelenfrieden, erzählte grauenhafte Geschichten, die er angeblich mit eigenen Augen gesehen oder zumindest von überaus glaubwürdigen Zeugen gehört hatte.
Maren an einem Samstagabend im vergangenen Jahr – zu einer Zeit wohlgemerkt, als ich mich noch für ihren Einzigen hielt – in einer Kölner Diskothek, die sie stündlich mit einem anderen Typ verließ und ganz bestimmt nicht, um draußen den Vollmond zu bewundern. Maren an einem Nachmittag im letzten Sommer – während ich sie im Ballettunterricht, mit der Geige unterm Kinn oder bei Klavierübungen wähnte –, im Gebüsch neben dem Fußballplatz. Bei ihr gleich zwei andere, beide etwas älter als ich, selber Jahrgang wie mein Bruder. Einer puderte aus Leibeskräften Marens Dose. Der zweite hing über ihrem Gesicht und ließ sie nach Lust und Laune musizieren. Dann kam noch ein Dritter dazu. An der Stelle winkte mein Bruder ab. «Den Rest erspar ich dir lieber. Du kommst nie im Leben darauf, welche Stelle sie für den freigemacht hat.»
Natürlich kam ich darauf, mir hatte sie die Stelle auch mehrfach dargeboten. Und selbstverständlich glaubte ich kein Wort. Aber zusätzlich erstellte mein Bruder diese Liste, nach Lebensjahren und Erfahrungen gestaffelt. Mit siebzehn ist der Mann noch zu blöd, um zu begreifen, auf was für ein Früchtchen er sich da eingelassen hat. Mit achtzehn müsste ihm eigentlich ein Licht aufgehen, tut es aber nicht, weil er meint, jetzt ginge die Welt unter. Und gesetzt den Fall, der Mann macht nun irgendeine Dummheit, um dem Früchtchen zu imponieren und es zurückzugewinnen: dann verliert der Mann zuerst sein Zuhause, danach seine Zukunftsaussichten. Dass er es irgendwann zum Kriminalkommissar brächte, kann er sich dann nämlich abschminken. Die würden ihn nicht mal mehr Streife fahren lassen, die brauchten nämlich Leute ohne Fehl und Tadel. Und schließlich verliert der Mann seine Selbstachtung, weil er doch nie etwas anderes tun wollte, als für Recht und Ordnung kämpfen. Das habe ich noch im Kopf, als wäre es gestern gewesen.
1984 bis 1995
Nach dem Abitur verlor ich Maren für lange Jahre aus den Augen. Ihr Vater schickte sie in die USA, aus Sicherheitsgründen, denke ich, weil ich immer noch hinter ihr her war wie der Teufel hinter der armen Seele. Dass ich es trotz meiner erfolglosen Jagd zu einem – nicht einmal schlechten – Schulabschluss brachte und die Prüfungen der polizeilichen Aufnahme- und Weiterbildungsstätte NRW mit Sitz in Münster bestand, mich sogar für den gehobenen Dienst qualifizierte, muss als Wunder betrachtet werden. Für mich war es eine ganz neue Erfahrung. Wenn Maren mich abservierte, beflügelte mich das zu Höchstleistungen auf anderen Gebieten. Irgendwie musste ich den Schmerz ja kompensieren, die Gedanken ausschalten oder in eine andere Richtung lenken.
Mit dreiundzwanzig lernte ich meine erste Frau kennen, Karola. Sie war auch genauso alt wie ich, aber kein Vergleich mit Maren. Ein eher hausbackener Typ war sie, sexuell ziemlich verklemmt, jedenfalls vor der Hochzeit, sehr viel leidenschaftlicher wurde sie danach auch nicht. Gestört fühlte ich mich davon allerdings nicht. Ich hielt es im Gegenteil für besser, unsere Beziehung auf eine andere, sprich solide Grundlage zu stellen.
Zwei Jahre später heirateten wir, nahmen eine Hypothek auf, kauften uns eine Wohnung in Horrem und richteten uns gemütlich ein. Wir wollten auch irgendwann Kinder, später, wenn
Weitere Kostenlose Bücher