Mit den Augen eines Kindes
ein Kapitel für sich. Bärbel und Siegfried, Hanne nannte beide nur bei den Vornamen, machte sich auf diese Weise deutlich, dass sie erwachsener war als die beiden Menschen, die zwar älter waren als sie, aber nicht imstande, Verantwortung zu tragen.
Bärbel und Siegfried konnten nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Wenn sie zusammen waren, fetzten sie sich wie kleine Kinder, weil die Versöhnung anschließend immer so schön war. Siegfried hatte die Familie verlassen, als Hanne zwölf Jahre alt gewesen war. Er sei das jetzt leid und wolle endlich seinen Frieden, hatte er gesagt, als er seine Sachen packte.
Bärbel war ihm augenblicklich hinterhergereist, ohne Sachen, so schnell konnte sie nämlich nicht packen. Nach drei Tagen war Bärbel zurückgekommen, allerdings nur, um etwas Kleidung zu holen und Hanne mit zweihundert Mark auszustatten, damit sie sich etwas zu essen kaufen konnte. Miete, Strom und die Telefonrechnung wurden abgebucht, darum musste Hanne sich nicht kümmern.
Beim ersten Mal blieb Bärbel für zwei Monate ihren Pflichten als Mutter fern, rief jedoch regelmäßig an, um sich zu erkundigen, ob Hanne noch Geld hätte, und schickte ihr etwas, wenn sie blank war. Das hatte sich in den folgenden Jahren noch mehrfach wiederholt. Hanne hatte es nie einem Menschen erzählt, aus Furcht, man könne sie in ein Kinderheim bringen.
Mit sechzehn hatte sie ihre Ausbildung begonnen, mit achtzehn ein möbliertes Apartment bezogen. Siegfried und Bärbel waren längst geschieden und lebten in der Nähe von Hannover wie ein Liebespaar. Jeder hatte seine eigene Wohnung, das war auch bitter nötig, wenn es mal wieder tüchtig gekracht hatte.
Geschult durch unzählige Stunden, in denen Bärbel das Drama ihrer Ehe mit der Tochter erörtert hatte, war Hanne mit nichts mehr zu erschüttern, die geborene Zuhörerin für Leute, denen man das Herz aus dem Leib gerissen hatte. Und wenn man wieder mal frühmorgens auf einem Stuhl sitzt, die Manschette des Blutdruckmessgerätes um den Arm oder die Nadel zur Blutabnahme drin, wenn man voller Anteilnahme gefragt wird, ob es mit den Kopfschmerzen immer noch nicht besser sei und was die letzte Röntgenaufnahme des Magens ergeben habe, gerät man ins Plaudern.
Wir gingen ein paar Mal aus. Nicht auf meine Initiative. Hanne wusste, was sie wollte und sagte das auch frei heraus.
«Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht krank sind?»
«Dann bin ich im Dienst.»
«Aber doch nicht abends oder am Wochenende.»
Doch, im Prinzip immer. Was hätte ich auch sonst anfangen sollen mit meiner Zeit? Aus der elterlichen Wohnung flüchten, mich in der Dienststelle verschanzen und Strategien austüfteln, mit denen man Einbrechern das Leben schwer machen konnte. Bei einigen Handwerksbetrieben war ich überaus beliebt. Ich organisierte Ausstellungen für Türen und Fenster, die Einbruchswerkzeugen länger standhielten, beriet Bürger, wie sie ihre Häuser und Wohnungen sicherer machen konnten. Damit verbrachte ich meine Abende und die Wochenenden. Ich schob einen Berg von Überstunden vor mir her.
Ein paar feierte ich dann mit Hanne ab. Wir machten lange Spaziergänge, tranken auch mal irgendwo einen Kaffee, obwohl ihr Chef mir den wegen meinem zu hohen Blutdruck verboten hatte. Aber Hanne meinte, es sei nur psychosomatisch und käme wieder auf die Reihe, wenn ich mein Privatleben in den Griff bekäme und einen rosa Schimmer für die Zukunft sähe.
Ich bemühte mich, ihr auszureden, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Such dir lieber einen, mit dem du glücklich wirst, Mädchen. Du bist noch so jung und hast es verdient, glücklich zu sein. Häng dich nicht an ein Wrack. So sagte ich das natürlich nicht. Stattdessen erzählte ich ihr zur Abschreckung von Maren, was immer ich über die Lippen brachte.
Aber Liebe, Lust, Leidenschaft und die diversen Querelen waren Hanne bestens vertraut. Abgestoßen fühlte sie sich davon nicht, im Gegensatz zu meiner Familie zeigte sie vollstes Verständnis. So etwas könne jedem passieren, meinte sie. Gegen Gefühle sei nun mal kein Kraut gewachsen. Das habe sie bei ihren Eltern erlebt und erlebe es immer noch, wenn nun auch aus der Ferne.
«Und in Ihrem Fall», meinte sie – als wir darüber sprachen, waren wir noch nicht zum Du übergegangen –, «liegen die Dinge doch günstiger. Sie haben jedenfalls nicht alles stehen und liegen lassen und sind der Dame hinterhergeflogen. Sie haben nur eine bittere Erfahrung gemacht.»
Und Hanne hielt
Weitere Kostenlose Bücher