Mit der Linie 4 um die Welt
sie geradewegs aus dem neunzehnten Jahrhundert angereist. Sie fragt den Busfahrer, ob sie hier in der Innenstadt sei. »Das sehen Sie doch«, antwortet er und betätigt die Hydraulik, die den Bus aus der schrägen Einsteige- in die Fahrposition anhebt. Dann klingelt er ab. Die Frau will wieder raus, sie wollte nur diese eine Frage stellen.
Der Bus biegt in den Cours des Arts et Métiers ein. »Le Paysage de Cézannes«, steht auf einem Transparent. Jetzt führt der Weg Richtung Osten. Wenn die 4 die Ringstraße der Altstadt hinter sich hat, werden die Sprachen vielzähliger, oft hört man auch gebrochenes Französisch. Zwei Mädchen mit falschem Schmuck und Webpelz verständigen sich in einer Mischung aus Französisch und Portugiesisch. Im Bus sitzen nun überwiegend Menschen mit dunkler Hautfarbe und Frauen mittleren Alters. Sie haben Zimmer geputzt oder Putzmittel verkauft, alles an ihnen ist müde, und zu Hause warten wahrscheinlich die Kinder, die wieder Unordnung gemacht oder die Schule geschwänzt haben. Sie steigen an den Haltestellen aus, wo die Farbe an den Hausfassaden abblättert. Die Stadt ist nicht so offen widersprüchlich wie das unweit gelegene Marseille. Aber es gibt durchaus marseillische Ecken in Aix. Und trotzdem sagt man auch an diesen Haltestellen »Bonjour«, wenn man in den Bus einsteigt, und »Au revoir«, wenn man ihn verlässt. Der Busfahrer ist einer von ihnen.
Ein junger Mann läuft betont lässig durch den Bus, um die Haltewunschtaste zu drücken. Er steigt gerade aus, als eine Frau von innen ans Fenster klopft und seinen Namen ruft – seine Großmutter. Er bleibt in der Lichtschranke stehen, plötzlich ein kleiner Junge. Der Busfahrer fragt: »Rein oder raus?«, der junge Mann entscheidet sich für rein und fährt noch drei Haltestellen mit der Großmutter mit, die unablässig auf ihn einredet, und jeder der Sätze hat ein Ausrufezeichen. Beim Aussteigen hakt er sie unter und nimmt ihr die Einkaufstasche ab, die alt und abgeschabt ist. Viel kann die Frau nicht eingekauft haben.
Ein Knall, und dann geht ein Heulen los. Große Ohrfeige hinten links, eine aufgebrachte Männerstimme, zwei Haltestellen später wird ein trotziges Bündel aus dem Bus geschleift. »Au revoir«, sagt der Mann, der das Bündel trägt, »Au revoir«, der Busfahrer.
Beauregard heißt die Sozialsiedlung, bis zu der die meisten mitfahren. »La vérité sur la mort de Sofiane«, steht auf einem selbst gemalten, schon etwas älteren Transparent. Sofiane lächelt, schon leicht verwittert, ihre Augen hat der Regen abgewaschen. Wie ist Sofiane gestorben? Das Transparent bleibt rätselhaft und brennt sich ein ins Gedächtnis.
Ich bin der einzige Fahrgast, drei Haltestellen lang. An mehreren Stellen des Streckenverlaufs der 4 öffnet sich die Landschaft, und man kann den Sainte Victoire sehen, der mit seiner seltsamen Farbigkeit wie ein Magnet wirkt, und man glaubt zu verstehen, warum Cézanne diesen Berg so faszinierend fand, dass er ihn immer wieder und von den verschiedensten Punkten der Stadt aus gemalt hatte. Gerät er ins Blickfeld, schauen alle Mitfahrenden in seine Richtung. Aus der dichten Bebauung werden Hochebenen mit Pinien und Zypressen am Straßenrand, vereinzelt stehen Häuser, deren Besitzer wohl die Dachschindeln aus derselben Ziegelei bezogen haben. Die Landschaft erinnert daran, dass das Mittelmeer und die Toskana nicht weit sind. Dann werden die Straßen wieder enger, sodass zwei Busse, kommen sie sich entgegen, auf die Gehwege ausweichen müssen. Kein Mensch ist zu sehen.
Die Linie 4 endet am Parkplatz Les Trois bons Dieux, auf der Bibémus-Hochebene am Fuß des Sainte-Victoire-Gebirges. Der Parkplatz ist leer. An den Rändern ziehen sich Bewässerungssysteme durch die Beete. Im Sommer trocknet hier alles aus. Ein Schild weist in mehreren Sprachen darauf hin, dass die Gegend wegen der Trockenheit durch Waldbrände stark gefährdet ist. Von hier aus kann man Besichtigungen machen, kleine Pilgerreisen auf den Spuren Cézannes. Das Ziel sind alte Steinbrüche, schon in römischen Zeiten und bis ins neunzehnte Jahrhundert ausgebeutete, bizarre Landschaften, von Mensch und Natur geschaffen, die den Maler besonders inspiriert haben. Er spazierte oft stundenlang umher, um einen Punkt zu finden, wo er malen konnte, umgeben von Schirmen, die ihn vor neugierigen Blicken schützen sollten. 1906, wenige Tage vor Cézannes Tod, malte er in Les Lauves. Dort geriet er in ein Gewitter, was ihn nicht daran
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