Mit der Reife wird man immer juenger
durchschaut hat. Doch erst als auch diese Revolte gegen das allmähliche Schwinden der körperlichen Freuden und Genüsse ausgelebt und bis zur Neige erprobt ist, gelingt es ihm, vergleichbare Vorgänge auch in der Umgebung wahrzunehmen. Wenn zum Beispiel nach einem Gewitter die Schatten ein wenig schärfer hervortreten, die Gegenstände an Farbe verloren, dafür aber an Umriß gewonnen haben, wird ihm dies zum Gleichnis für den Vorgang des Alterns. Statt über den Verlust an Farbe und Sinnlichkeit zu klagen, freut er sich über den Gewinn an Kontur und Profil. Und von dort ist es nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, daß »Alter nicht schlechter als Jugend ist, Lao Tse nicht schlechter als Buddha, Blau nicht schlechter als Rot«, daß Alter nur dann lächerlich und unwürdig werde, »wenn es Jugend spielen und nachahmen will«.
Immer mehr von den erfreulichen Aspekten des Alters werden ihm bewußt, seit er es aufgegeben hat, dagegen anzukämpfen: der Zuwachs an Gelassenheit, die uns unempfindlicher macht gegen Nadelstiche und Hiebe, das Reservoir an Erfahrungen, Bildern und Erinnerungen aus der Vergangenheit, die uns – dank der wohltätigen Selektion des Gedächtnisses – oft schöner und lebenswerter vorkommt als die Gegenwart, die Aussicht auf baldige Befreiung von den Gebrechen des Körpers und die Gemeinschaft mit all den Freunden, geliebten und verehrten Menschen, die uns im Tod vorausgegangen sind, und schließlich die bange, doch zuversichtliche Neugier auf das, was uns danach erwartet. Wird doch »vielleicht auch noch die Todesstunde / Uns neuen Räumen jung entgegensenden / Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. / Wohlan denn, Herz, nimmAbschied und gesunde!«, wie es am Schluß seines berühmten »Stufen«-Gedichtes heißt.
Wer neben diesen Texten aus vier Jahrzehnten auch die beseelten Altersphotos von Hermann Hesse zu lesen versteht, deren ausdrucksvollste von seinem Sohn Martin stammen, der wird die Bemerkung seines Dichterkollegen Ernst Penzoldt nachvollziehen können, der glaubte, »das Ziel aller künstlerischen Bemühungen ist nichts anderes, als im Alter so auszusehen wie es beispielsweise Hermann Hesse gelang. Ja, ich behaupte, man braucht ihn dann gar nicht mehr zu lesen, sondern nur anzuschauen, um seines Lebens und Wirkens innezuwerden. Denn die Identität seiner geschriebenen Person mit diesem alterslosen Antlitz ist vollkommen und stellt gleichsam die Quintessenz aller Gedichte und Schriften dar. Aber wir würden ihn ja nicht wirklich sehen, ohne ihn gelesen zu haben!«
Volker Michels
Die in eckigen Klammern stehenden Titel bezeichnen Passagen,
die größeren Textzusammenhängen entstammen.
Quellenangaben am Ende dieser Passagen.
Zu dieser Ausgabe
insel taschenbuch 2857: Der vorliegende Text ist eine erweiterte und revidierte Fassung des insel taschenbuchs 2311: Hermann Hesse, »Mit der Reife wird man immer jünger«. Betrachtungen und Gedichte über das Alter. Herausgegeben von Volker Michels. Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1990. , Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Die Gedichte wurden der Ausgabe Hermann Hesse, »Die Gedichte«, Frankfurt am Main 1977 entnommen, bei Auszügen aus Romanen und längeren Betrachtungen ist am Ende der Texte die Herkunft und das Publikationsdatum vermerkt. Die kürzeren Texte stammen zum überwiegenden Teil aus Hermann Hesses Briefen. Umschlagabbildung: nach einem Aquarell von Hermann Hesse. © Heiner Hesse Arcegno 2002.
Hesse gehört zu den Autoren, die das Glück hatten, alt zu werden und alle Lebensstufen auf charakteristische Weise erfahren und darstellen zu können. Zu den schönsten dieser Schilderungen gehören seine Betrachtungen über das Alter, über die Lebensjahre, in denen Wirklichkeit und Umwelt eine spielerische Surrealität gewinnen, in denen die Erinnerung an die Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart an Realität zunimmt. Diese Zeit des Übergangs fördert als Ausgleich zu den wachsenden körperlichen Gebrechen »den Schatz an Bildern zutage, die man nach einem langen Leben im Gedächtnis trägt und denen man sich mit dem Schwinden der Aktivität mit ganz anderer Teilnahme zuwendet als je zuvor. Menschengestalten, die nicht mehr auf der Erde sind, leben in uns weiter, leisten uns Gesellschaft und blicken uns aus lebenden Augen an.«
Hermann Hesse, geboren am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg, als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen, 1946 ausgezeichnet mit dem
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