Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
und finde mich selber schrecklich. Ich klinge wie eine Gouvernante. Mit dieser Meinung stehe ich scheinbar nicht alleine da. Mit einem resignierten Schulterzucken wendet er sich wieder dem Orangensaft zu und reicht mir ein Glas.
»Hier.«
»Danke.« In wenigen Schlucken stürze ich das Getränk herunter, während ich zum Aquarium hinübergehe, um meinem Goldfisch Tristan einen Guten Morgen zu wünschen. Er kommt freudig angeschwommen und klappt grüßend das Maul auf und zu. Eigentlich wollte ich immer eine Katze oder einen Hund haben, aber das ist in meinem Job völlig ausgeschlossen. Wenn es Simon nicht gäbe, würde auch Tristan elendig verhungern, denn während der Woche bin ich momentan immer in München. Ich streue etwas Fischfutter in das Wasser und beobachte, wie er sich daraufstürzt. Mein Blick wandert durch das große, rechteckige Aquarium. Hinten links steht das Felsenhaus mit den fünf Löchern, in das Tristan sich zurückziehen kann, rechts ein wahrer Urwald von Zierpflanzen. Ein bisschen fühle ich mich wie eine berufstätige Mutter, die ihr Kind aus schlechtem Gewissen mit Spielzeug überhäuft. »Bis Freitag«, sage ich leise und tippe noch einmal grüßend gegen die Glaswand. Dann wende ich mich Simon zu, der gerade den Entsafter in seine Einzelteile zerlegt und diese unter fließendem Wasser abspült. »Das ist so lieb von dir, aber du brauchst doch wirklich nicht mit mir aufzustehen um diese Zeit«, sage ich wie jeden Montagmorgen, und wie jedes Mal antwortet er:
»Sonst bekomme ich dich doch gar nicht mehr zu Gesicht.« Die gleichen Worte wie immer. Jedes einzelne ein Vorwurf. Zumindest empfinde ich es so. Ich weiß, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Ich weiß, dass ich mir zu wenig Zeit für Simon, für unsere Beziehung nehme, aber woher soll ich die nehmen? Der Tag hat ja kaum genug Stunden, um meinen Job zu erledigen. »Du, Simon, vielen Dank für den Adventskalender.«
»Gern geschehen.«
»Ich kann es nicht fassen, dass bald schon wieder Weihnachten ist«, sage ich verlegen und nippe an dem Milchkaffee, der ebenfalls schon für mich bereitsteht. In einem hohen Glas mit hübscher Milchschaumkrone obendrauf. Wie jeden Montagmorgen.
»Ja, die Zeit fliegt«, antwortet mein Freund ein bisschen steif. Apropos fliegen, verdammt, ich muss los. Just in diesem Moment klingelt es dann auch an der Wohnungstür. Das ist das Taxi, das ich gestern Abend schon bestellt habe. Hilflos stehe ich da, den halb vollen Kaffee in der Hand, und sehe Simon an, der jetzt mit verschränkten Armen am Kühlschrank lehnt und mich erwartungsvoll ansieht. Aber was soll ich sagen? Ihm versprechen, dass alles anders wird? Das habe ich schon so oft gesagt, aber was ist passiert? Vor allem seit meiner Beförderung zur Managerin vor sechs Monaten? Noch mehr Arbeit, noch weniger Zeit. Verdammt, was soll ich denn machen? Plötzlich bin ich furchtbar wütend auf Simon, auf den Weihnachtsmann aus Pappe, den er mir gebastelt hat und auf das Herz aus Kakao auf meinem Milchschaum. Nicht jeder hat einen Job am fünfzehn Autominuten entfernt gelegenen Gymnasium, der um vierzehn Uhr endet, möchte ich Simon am liebsten anschreien. Gleichzeitig möchte ich ihn in den Arm nehmen und sagen, dass es mir Leid tut und dass ich ihn liebe und dass ich ihm nächstes Jahr den schönsten und kreativsten Adventskalender basteln werde, den die Welt je gesehen hat. Ich tue weder das eine noch das andere. Die Türklingel schellt erneut, diesmal länger.
»Ich muss los«, sage ich hastig, mache einen Schritt auf Simon zu, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn zum Abschied auf die Lippen. Mein Kuss bleibt unerwidert. Ich schlinge meine Arme um ihn, doch er bleibt stocksteif. »Es tut mir Leid«, flüstere ich ihm ins Ohr, bevor ich hektisch in den Flur laufe. »Ja doch, ich komme runter«, brülle ich in die Gegensprechanlage, bevor der Taxifahrer mit seiner Sturmklingelei noch den letzten unserer Nachbarn aus dem Bett holen kann. Ich schnappe mir meinen langen, schwarzen Wintermantel und mein Bordcase, das schon fertig gepackt an der Wohnungstür auf mich wartet. Die Hand an der Klinke zähle ich langsam bis fünf und schiele in Richtung Wohnzimmer, ob Simon vielleicht doch noch mal um die Ecke kommt, um mir ein Zeichen der Versöhnung zu geben. Aber nichts rührt sich.
»Tschüss«, rufe ich so fröhlich wie möglich, »ich rufe dich heute Abend an.« Keine Antwort. Na, dann eben nicht, denke ich nun ebenfalls eingeschnappt und
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