Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
doch das ganze Wochenende nicht gesehen. Ob er sehr sauer ist wegen des Jahrestages? Ich lausche angestrengt. Aber im Flur bleibt alles still. Ich warte noch ein paar Sekunden, dann rappele ich mich seufzend auf und tapse barfuß über den Holzfußboden. »Simon? Wo bist du?«
»Hier«, erklingt seine Stimme vom anderen Ende der Wohnung aus dem Wohnzimmer. Bauch rein, Brust raus. Ich fühle mich ja ehrlich gesagt immer ein bisschen unwohl, wenn ich halbnackt durch die Gegend laufe. Doch ich nehme Haltung an und gehe zu Simon ins Wohnzimmer. Irgendwie sieht er traurig aus, wie er da mit hängenden Schultern an unserem großen Esstisch sitzt und vor sich hin starrt.
»Hey«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu. Er blickt hoch, und seine Augen flackern kurz irritiert auf. Ich stütze eine Hand in meine Taille und versuche so etwas wie ein kokettes Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen gelingt es mir nicht ganz. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu. Was soll ich sagen? »Herzlichen Glückwunsch zum Jahrestag« und mich dann auf ihn stürzen? Irgendwie ist so etwas in der Theorie viel leichter als in der Praxis. Außerdem schaut Simon mich die ganze Zeit so merkwürdig an. Seine Augen scheinen mich zu durchbohren, und ich wünsche mir noch mehr als vorher, dass ich mir etwas übergezogen hätte. Irgendwas stimmt doch hier nicht. Es ist, als befände sich zwischen uns eine unsichtbare Mauer. Simon wirkt wie ein Fremdkörper in seiner eigenen Wohnung. Plötzlich läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken, die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.
»Warum hast du denn deine Jacke noch an?«, frage ich alarmiert und kann meinen Blick nicht losreißen von dem Kleidungsstück aus dunkelbraunem Tweed. Der Reißverschluss ist bis unter das Kinn geschlossen, der Kragen hochgestellt. Meine Nacktheit wird mir noch mehr bewusst dadurch, dass Simon so völlig unpassend angezogen und zugeknöpft in unserem gut beheizten Wohnzimmer sitzt. »Warum hast du deine Jacke an«, wiederhole ich und schaue Simon in die Augen. Er weicht mir aus und starrt auf die Tischplatte. Ich folge seinem Blick. Da liegt der Schlüsselanhänger, mein allererstes Geschenk an Simon. Die kleine, mittlerweile arg ramponierte und abgegriffene Schildkröte. An dem silbernen Ring hängen vier Schlüssel, für die Haus- und Wohnungstür, Briefkasten und Dachboden.
»Was ist das?«
»Das sind die Schlüssel zu deiner Wohnung.« Ich öffne den Mund, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es die Schlüssel zu unserer Wohnung sind. Zu unserer Wohnung, nicht meiner. Aber da hebt Simon wieder den Blick, und die Härte in seinen Augen lässt mich verstummen.
»Ich habe dich verlassen. Nur für den Fall, dass es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.«
Kapitel 3
Ich stehe noch immer wie zur Salzsäule erstarrt mitten im Wohnzimmer, nachdem sich die Wohnungstür längst hinter Simon geschlossen hat. Eine Salzsäule in dunkelbrauner Spitzenunterwäsche. Wie hat er das gemeint, er hat mich verlassen? Angestrengt versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Mein Gehirn fühlt sich an, als hätte jemand einen Topf mit extra zähflüssigem Klebstoff darüber ausgeleert. Es kann nicht sein, ich muss mich verhört haben. Man setzt sich nicht an einen Tisch, ohne auch nur Jacke und Schuhe auszuziehen, und eröffnet seiner langjährigen Freundin das Ende der Beziehung. So was tut man nicht. Na gut, mann vielleicht schon, aber doch nicht Simon. Sieben Jahre, die löscht man nicht einfach aus. Es ist ja nun nicht so, dass wir uns ab und zu mal zum Kino oder Vögeln verabredet hätten. Wir wohnen schließlich zusammen. Ach so! Plötzlich wird mir alles klar, und vor lauter Erleichterung werden meine Knie ganz weich. Natürlich, das war ein Schreckschuss! Eine Verwarnung! Simon zeigt mir die gelbe Karte! Die Erleichterung darüber, dass alles nicht so schlimm ist, und die Wut über den Schrecken, den er mir damit eingejagt hat, wechseln einander ab, aber schließlich gewinnt doch die Erleichterung. Ich muss ja zugeben, dass Simon es in der letzten Zeit nicht ganz leicht mit mir gehabt hat. Streng genommen in den letzten vier Jahren. Irgendwie kann ich sogar verstehen, dass er jetzt zu härteren Bandagen greift, um mir klarzumachen, dass es so nicht weitergehen kann. Aber eigentlich habe ich das doch gerade selber begriffen, oder etwa nicht? Nachdenklich sehe ich an meinem fast nackten Körper herunter. Wie konnte er mich
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