Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Simon, hier ist Vivi, schade, ich erreiche dich nicht«, sage ich mit bemüht fröhlicher Stimme und muss plötzlich an die vielen Male denken, die Simon mich nicht erreicht hat. Weil ich in einer wichtigen Konferenz war. Mit dem Vorstand der Vereinsbank beim Lunch. Mit meinem Chef auf der anderen Leitung. »Bitte ruf mich an, wenn du das hier abhörst, ja? Ich freue mich so auf dich. Ich komme jetzt nach Hause, okay? Bis gleich!« Voll des schlechten Gewissens lege ich auf und starre gedankenverloren aus dem Fenster in den trüben, nebligen Himmel. Der Schnee vom Anfang der Woche ist nicht liegen geblieben, das Wetter ist einfach nur grau und trostlos. Aus dem Radio dringen die Klänge von »Oh du fröhliche« an mein Ohr. Von wegen selige Weihnachtszeit. Nichts als Stress und Hektik. Im Geiste gehe ich durch, für wen ich noch alles Geschenke besorgen muss. Für Simon natürlich. Irgendetwas richtig Schönes und Romantisches und Durchdachtes muss es sein. Keine Krawatte jedenfalls. Die würde er sich vermutlich sowieso eher als Stirnband um den Kopf binden, bevor er damit seinen Kehlkopf in Gefahr bringt. Kurz muss ich bei dem Gedanken grinsen, aber dann klopfen schon wieder die Sorgen an. Ich brauche ein gutes Geschenk für Simon. Etwas, worüber er sich richtig freut. Ich muss die Sache mit dem Adventskalender wieder gutmachen. Und den verpatzten Urlaub im Sommer. Die vielen Wochenenden, die ich durchgearbeitet habe. Die unbeantworteten Anrufe. Ich zerbreche mir den Kopf, aber statt des zündenden Gedankens fährt ein scharfer Schmerz durch meine Schläfen. Das kenne ich schon. Zu Hause werde ich mich als Erstes in die Badewanne legen, um ein wenig zu entspannen. Dann könnten wir Essen bei unserem Lieblingsasiaten bestellen, Ente süß-sauer und Schweinefleisch mit Gemüse, und uns ein bisschen vor die Glotze hauen. Eigentlich wäre es auch mal wieder Zeit, dass wir miteinander schlafen. Ich versuche, mich an das letzte Mal zu erinnern, und bin erschrocken, dass ich es nicht kann. So lange ist das schon her?
Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke und ihn zweimal herumdrehen muß, bin ich ein wenig enttäuscht. Ist Simon denn nicht zu Hause? Was macht der bloß? Sofort rufe ich mich innerlich zur Ordnung. Was erwarte ich von ihm? Dass er hier in der Wohnung rumsitzt und darauf wartet, dass ich gnädigerweise mal auftauche? Na eben. Wahrscheinlich ist er mit irgendeinem seiner Freunde unterwegs.
»Simon«, rufe ich dennoch leise, als ich in den Flur trete, aber natürlich bekomme ich keine Antwort. Ich lasse meine Aktentasche zu Boden fallen und schäle mich aus dem Mantel. Mein Blick fällt in den Garderobenspiegel, und ich zucke erschreckt zurück. Furchtbar sehe ich aus. Die Augen liegen in dunklen Höhlen und funkeln nicht mehr leuchtend grün wie sonst, sondern wirken matt und tot. Ich trete einen Schritt näher und betrachte mich kritisch. An beiden Schläfen und auf dem Kinn habe ich Pickel, die Haut wirkt grau und unrein, die Haare sind stumpf und ohne Glanz.
»Du bist eben keine fünfundzwanzig mehr, sondern einunddreißig«, sage ich kritisch zu meinem Spiegelbild. Mein Konterfei reagiert alles andere als begeistert auf mein gnadenloses Urteil. Es presst die Lippen zusammen, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell reiße ich mich vom Spiegel los, bevor ich noch anfange, hier rumzuflennen. Dann ist es nämlich endgültig vorbei mit der Attraktivität. Ich stelle meinen Koffer im Schlafzimmer ab, das am Ende des Flures liegt, und werfe einen Blick auf unser breites, gemütliches Bett mit den weinroten Bezügen, das viel zu lange nur zum Schlafen benutzt worden ist. Plötzlich muss ich daran denken, wie wir das Bett gemeinsam gekauft haben. Wie wir stundenlang durch die verschiedensten Matratzengeschäfte gelaufen sind und probegelegen haben. Wie viel Zeit wir damals noch gehabt haben. Und wie glücklich wir waren. Als das Bett dann geliefert wurde, hat Simon einen Pfad aus Teelichtern und Rosenblättern durch den gesamten Flur gelegt, bis zum Bett, wo er mich erwartet hat. In seiner grünen Unterhose. Danach haben wir tagelang die Wohnung nicht verlassen. Ich habe Sehnsucht nach unserem alten Leben. Nach Simon. Unserer Zweisamkeit. Ich schüttele die Müdigkeit ab und laufe in die Wohnküche, wo ich Tristan im Vorbeilaufen ein Hallo zurufe. Natürlich kann ich die Vergangenheit nicht zurückholen. Wir sind nun keine Studenten mehr. Ich habe einen anstrengenden Job, der mich fordert.
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