Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Montagmorgen, 5.35 Uhr:
Wie vom Donner gerührt stehe ich mitten im Flur unserer Hamburger Altbauwohnung, bekleidet nur mit meinem bunten Badehandtuch, mit bloßen Füßen und tropfnassen Haaren. Ich befinde mich Auge in Auge mit einem dicken, weißhaarigen Mann. Bitte nicht, schießt es mir durch den Kopf. Nicht schon wieder! Er trägt eine rote Mütze und einen weiten Mantel in derselben Farbe, das rundliche Gesicht fast völlig verdeckt von einem dichten, weißen Vollbart. Sein Blick ruht vorwurfsvoll auf mir, die ich halbnackt vor ihm stehe und voller schlechten Gewissens die Augen niederschlage. Mir läuft ein Schauer den Rücken herunter. Sicher, er kann mir nichts tun. Er ist bloß sechzig Zentimeter groß, zudem aus Pappe und mit einem Nagel an die Schlafzimmertür gepinnt. Dennoch hätte mir der Weihnachtsmann keinen größeren Schrecken einjagen können, wenn er leibhaftig vor mir stünde.
»Nun, Viviane, warst du etwa ein böses Mädchen«, scheint er mich zu fragen, und meine Schultern wandern noch ein Stückchen höher, sodass mein Hals nahezu vollkommen zwischen ihnen verschwindet. Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen und schiele dabei verstohlen auf die dicke Weidenrute in der Hand von Santa Claus.
»Warst du ein faules Mädchen?«, forscht er weiter. Empört reiße ich meinen Blick von den Holzdielen zu meinen Füßen hoch und sehe dem Pappkameraden vor mir direkt in die Augen. Ein faules Mädchen? Ich? Man kann mir vieles nachsagen, ja, aber das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Urlaub gemacht habe. Seit über vier Jahren arbeite ich nicht weniger als sechzig Stunden die Woche. Ich habe es bis zur Managerin gebracht, seit ich bei »Wisenberg Consulting«, einer der größten Unternehmensberatungen weltweit, angefangen habe. Feindselig schaue ich den Weihnachtsmann an, doch der sieht plötzlich gar nicht mehr so böse aus. Im Gegenteil. Sein linkes Auge sitzt etwas höher als das rechte, wodurch er ein bisschen schielt. Unter dem mächtigen weißen Schnauzer biegen sich seine roten Lippen zu einem herzlichen Lächeln nach oben. Ach so, jetzt war also plötzlich alles nicht mehr so gemeint, ja? Er zuckt die Schultern und schüttelt mit einem unschuldigen Augenaufschlag den Kopf, dass die vierundzwanzig roten, rosa und weißen Päckchen, die an seinem Körper herunterbaumeln, nur so klimpern.
»Ich habe doch gar nichts gesagt«, meint er und lächelt mich unschuldig an, »ich hänge friedlich an deiner Schlafzimmertür, um dir eine fröhliche und beschauliche Adventszeit zu wünschen. Bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit …«, trällert er hinter mir her, während ich ins Schlafzimmer stürme, den Kleiderschrank öffne und hektisch nach einem Outfit zu kramen beginne. Da hängt mein dunkelblauer Hosenanzug, frisch aus der Reinigung und noch in durchsichtiger Folie. Erneut packt mich das schlechte Gewissen, denn ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal selbst dort war. Das übernimmt nämlich mein Freund Simon für mich. Ohne ihn wäre ich vermutlich mehr als nur einmal Montagmorgens nackt in den Flieger gestiegen. Und nebenher bastelt er mir auch noch in liebevoller Kleinarbeit einen Adventskalender. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass der Weihnachtsmann an meiner Schlafzimmertür von der weißen Troddel seiner Zipfelmütze bis hinunter zu den braunen, überdimensionalen Stiefeln von Simon selbst entworfen, ausgeschnitten und zusammengeklebt worden ist. Und in jedem seiner vierundzwanzig in Glanzpapier eingeschlagenen Päckchen befindet sich eine wohlüberlegte romantische Kleinigkeit, die mein Herz zur Morgenstunde erfreuen soll. Leider steht für mich auf jedem Geschenk vor allem in greller Leuchtschrift geschrieben: SIEH MAL, WIE AUFMERKSAM DEIN FREUND IST, NACH ALL DEN JAHREN. UND WAS IST MIT DIR?
Ja, was ist mit mir? Nach einem schnellen Blick auf den Radiowecker neben unserem Bett entscheide ich mich wie fast jeden Morgen, auf die Bodylotion zu verzichten. Wie lange meine Haut bei dermaßen stiefmütterlicher Behandlung noch so weich und glatt sein wird wie jetzt, bleibt abzuwarten. Vermutlich nicht mehr sehr lange. Ab jetzt werde ich früher aufstehen, schwöre ich mir, und wo ich schon mal beim Schwören bin, verspreche ich hiermit auch hoch und heilig, im nächsten November einen Adventskalender für Simon zu basteln. Eigenhändig! Zugegeben, das habe ich bereits vor einem Jahr geschworen,
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