Mit Kurs auf Thule
gegangen waren. Cranz war Theologe und Missionar in Diensten der Herrnhuter Brüdergemeine, einer 1722 gegründeten, aus dem Pietismus und der böhmischen Reformation herkommenden christlichen Glaubensbewegung innerhalb der evangelischen Kirche. 1761 wurde er für ein Jahr nach Grönland geschickt, wo die Herrnhuter bereits seit 1733 missionierten. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er sein wichtigstes Werk, die
Historie von Grönland
. Er erzählt in seiner kurzen Zusammenfassung der mittelalterlichen nordischen Aktivitäten in Grönland: Nachdem Bjarni Herjolfsson berichtet hatte, er habe unbekannte Länder im Westen gesehen, wollte sich Leif Eiriksson diese genauer anschauen. Er »rüstete also ein Schiff mit fünf und dreißig Mann aus, und begab sich mit Biörn auf die See«. 20 Cranz schrieb diese Information Paul Henry Mallets
Introductionà l’histoire de Dannemarc
(1755/1756) und Bischof Erik Pontoppidans
Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen
(1752, deutsche Übersetzung in zwei Bänden 1753/1754), zu, die beide auf Arngrímur Jónsson (um 1600) und Thormodus Torfæus (1636–1719) zurückgegriffen hatten, die wiederum ihre Informationen aus Adam von Bremen bezogen. 21
Mallet hatte tatsächlich deutlich gemacht, dass er sich auf die Werke von Arngrímur Jónsson und Thormodus Torfæus stützte, doch war er dabei zu ganz anderen Ergebnissen gekommen, als Cranz behauptete. Nachdem er die Geschichte von Bjarnis Abdrift erzählt hatte, schrieb Mallet: »Im folgenden Sommer, nämlich im Jahr 1002«, ging Bjarni nach Norwegen um sich mit »Graf [Jarl] Eric« zu treffen, und berichtete davon, dass er das unbekannte Land im Westen gesichtet habe. Weil es ihn ärgerte, dass man seinen Mangel an Neugier tadelte, begann Bjarni nach seiner Rückkehr nach Grönland »ernsthaft daran zu denken, diese Länder mit mehr Aufmerksamkeit zu erforschen. Leif, der Sohn jenes Eric Rufus, der Grönland entdeckt hatte … war darauf aus, selbst so berühmt zu werden wie sein Vater, und plante, selbst dorthin zu gehen; und als er es schaffte, seinen Vater dazu zu überreden, ihn zu begleiten, rüsteten sie ein Schiff mit fünfunddreißig Mann aus.« Mallet fuhr fort, dass Leif beschlossen habe, ohne seinen Vater zu segeln, als Eirik auf dem Weg zum Schiff vom Pferd fiel. 22 Mallet hatte Arngrímur Jónsson und Torfæus richtig verstanden, die die Informationen der Sagas zusammengetragen hatten, genau wie wir sie auch heute kennen. 23
Der Deutsche Cranz hatte einfach Mallets Französisch missverstanden und eine neue Fassung der Segelfahrt der Nordmänner nach Vínland geschaffen, doch das Ansehen des Autors als Geistlicher, verbunden mit dem weit verbreiteten |255| Unwissen auf dem europäischen Kontinent über die mittelalterlichen Nordmänner, gab diesem Mythos Auftrieb, und Cranz’ Buch fand eine breite Leserschaft unter Nichtskandinaviern, die sich für das erst kürzlich (1721) wieder besiedelte Grönland interessierten. Das Werk galt noch 1864 als aktuell, als Charles Francis Hall mit
Life with the Esquimaux
seinen eigenen Bericht über die Nordmänner des Mittelalters verfasste und dabei Cranz zitierte. Auch Pater Fischer kannte Cranz’ Buch, als er 1902
Die Entdeckungen der Normannen in Amerika
schrieb und behauptete, eine Reihe früher Karten gefunden zu haben, die auf eine Kenntnis der nordischen Reisen nach Nordamerika hinwiesen. 24
Die Überzeugung, dass die mittelalterlichen Nordmänner eine kartografische Darstellung ihres kurzen Aufenthaltes in Vínland hinterlassen hätten, hegte Fischer bis ans Ende seiner Tage. Er blieb leidenschaftlich interessiert an diesem Thema, selbst nachdem seine skandinavischen Mentoren gestorben waren und er sich anderen kartografischen Themen zugewandt hatte, weil er nicht mehr den notwendigen Zugang zu den relevanten Quellen hatte. Er erlernte nie eine der nordischen Sprachen, kannte die Gepflogenheit des Vatersnamens nicht (daher der absurde
leiphus erissonius
für Leif Eiriksson), und seine Vorstellungen über die mittelalterlichen Grönländer ließen doch einiges zu wünschen übrig. Alles weist darauf hin, dass Fischer die
Vínland-Karte
zeichnete, kurz nachdem Hitler 1933 an die Macht gekommen war und die Nationalsozialisten sich eine eigene Lügengeschichte ihrer »nordischen« Vorfahren gestrickt hatten, um ihre Ansprüche auf eine arische Vorherrschaft und ein Großdeutschland zu untermauern. Das hätte gereicht, um einen alternden, anständigen gelehrten
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