Mit reinem Gewissen
war – gefragt habe, was das denn für die Menschen, die dort im Osten leben, bedeutet. Sollen diese nun vertrieben werden oder Schlimmeres?
Die Wehrmacht hat die Länder Europas überfallen, eines nach dem anderen, auch die Sowjetunion. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Bis 1942 sahen wir in der Heimat und an der Front, auch in Frankreich, wo kein wirklicher Krieg war, die Bilder von Siegesmeldungen. Und wir sahen die Bilder der riesigen Kesselschlachten, wo Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene auf freiem Feld eingekesselt waren. Bis Moskau – ein Blitzsieg sollte das ja werden, genau wie in Polen und Frankreich. Und dann kam der frühe und extrem kalte Winter 1941/42. Da erfroren auch deutsche Soldaten. In der Heimat liefen deshalb Kleidersammlungen, aber die liefen nur für deutsche Soldaten. Wir, mein Freund Kurt Oldenburg – auch aus Hamburg – und ich, haben uns gefragt, was ist mit den russischen Kriegsgefangenen, die mit leichter Kleidung auf freiem Feld, zu Hunderttausenden, zu Millionen, ausharren mussten? Die müssen ja alle erfrieren und verhungern! So war es dann auch. Wir haben uns gesagt: Also
diesen
Krieg wollen wir nicht mitmachen. Ich wollte vor allen Dingen kein Soldat sein, wollte keine Menschen töten, keine Verbrechen begehen. Ich wollte ganz einfach leben.
Wir beide desertierten 1942, wurden an der Grenze zum unbesetzten Frankreich verhaftet und in Bordeaux zum Tode verurteilt. Sowohl bei der Vernehmung als auch in der Todeszelle wurden wir gefoltert, weil wir ihnen unsere Freunde und Fluchthelfer nicht verraten haben. Ich war zehn Monate in der Todeszelle. Tag und Nacht an Händen und Füßen gefesselt. Jeden Morgen, wenn die Wachen wechselten, dachte ich, jetzt holen die mich raus. Es war so ein Grauen! Es verfolgt mich bis heute. Warum sie uns gefesselt haben? Wir hatten mit Spaniern, wir sagten: Rotspanier, einen Ausbruchversuch geplant. Sie waren vor Franco, vor dem Krieg geflüchtet. Es waren etwa 90 Männer, auch Jungs dabei, von zehn, elf, zwölf Jahren. Dieser Ausbruchversuch ist aufgeflogen. Etwa drei Wochen später wurden die Angehörigen dieser spanischen Geiseln auf den |327| Gefängnishof gebracht. Und wir konnten durch die Gitter sehen, dass sie ihre Männer und Kinder in die Arme nahmen, schrieen und sie nicht loslassen wollten. Wir sahen Soldaten, die sie auseinander rissen, brutal, und die Geiseln und die Kinder, die wurden alle umgebracht.
Beim Heer und bei der Luftwaffe wurden ca. 30 Prozent der Verurteilten begnadigt. Das hieß aber nicht, dass sie auch überlebten: Die meisten Begnadigten sind dann in KZs oder Straflagern umgekommen. Bei der Marine wurden im Allgemeinen, wohl vor dem Hintergrund, dass die Meutereien am Ende des Ersten Weltkriegs von der Marine kamen, nicht begnadigt. Und Dönitz – seit Januar 1943 Nachfolger von Großadmiral Raeder als Oberbefehlshaber der Marine, hat ganz klar gesagt und schriftlich festgelegt: Bei ihm wird kein Deserteur begnadigt.
Großadmiral Raeder hat einem Geschäftsfreund meines Vaters, der sich für mich an seinen früheren Kameraden Raeder wandte, geantwortet, dass er sich durch persönliche Beziehungen nicht beeinflussen lasse. Er könne ihm aber mitteilen, dass er den jungen Baumann und den jungen Oldenburg begnadigt habe und es jetzt bei ihnen liege, dem Führer durch Mut und Tapferkeit zu beweisen, dass sie der Begnadigung würdig seien. Meine Schwester ist nach Berlin zum Marineministerium gefahren und hat das offiziell erfahren. Weil ich die Franzosen nicht verraten habe und weil wir einen Ausbruchversuch gemacht hatten, war noch gar nicht klar, ob neue Anklage erhoben werden sollte. Wir durften schreiben, meist einmal im Monat, manchmal auch öfters. Post empfangen durften wir auch, nur die Post meines Vaters und meiner Schwester bekam ich nicht ausgehändigt, weil etwas über meine Begnadigung drin stand. Mein Vater und meine Schwester konnten aus meiner Post wiederum sehen, dass ich von meiner Begnadigung nichts wusste.
Aus meiner Akte habe ich erfahren, dass ich am 29. April 1943 dem Kommandanten des Gefängnisses in Bordeaux gefesselt vorgeführt worden bin. Mir wurde die Gnadenentscheidung des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine vom 20. August 1942 mitgeteilt. Ich war also nach sieben Wochen begnadigt |328| worden, habe es aber nicht erfahren. Acht Monate war ich begnadigt in der Todeszelle. Und mein Vater – das ist ganz tragisch –, der hat immer voller Angst gedacht, nun erfährt er mit
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