Mit reinem Gewissen
den Nazihemden und waren plötzlich als Demokraten verkleidet. Die innere Umkehr, an die Goes dachte, konnte das nicht sein. Erst 68 bestand darauf.
Die Erzählung »Unruhige Nacht«, heute bis ins Reclam-Heft |122| hinein kanonisiert, lässt sich mit ihren über 60 Seiten nicht auf einmal vorlesen. Sie erhält auch keine heroische narrative Wendung, wie wir sie aus der Exilliteratur kennen. Sie thematisiert Menschlichkeit in einer unmenschlichen Kriegswelt. Sie beschönigt die Verstrickungen nicht und hat einen dokumentarischen Kern. Obwohl Albrecht Goes Pfarrer war und nach dem Krieg auch wieder eine Pfarrei erhielt, ist seine Erzählung Heinrich Böll mit seinen Kriegserzählungen näher als denjenigen, die in den 50er-Jahren als christliche Dichter gefragt waren, von Gertrud von le Fort bis zu Reinhold Schneider, die die Geschichte mit metaphysischer Aufladung entschärften.
Als fast 80-Jähriger hat Albrecht Goes die Entstehung und die Wirkungsgeschichte der Erzählung rekapituliert. Eine stürmische Herbstnacht in einem schwäbischen Dorf weckte das Fieber der Erinnerung an Proskurow. Er machte sich in gewohnter Umständlichkeit ans Werk, das Wochen und Monate dauerte. Ein Becher Wahrheit sollte es sein, in zehn kleine Kapitel gegliedert. Verlag und Lektor waren dann schneller. Ein französischer Übersetzer, der Germanist Pierre Bertaux, Freund des Autors, aber auch Politiker und Geheimdienstler, strich den letzten Abschnitt und zog den Titel »Jusqu’à l’aube« vor, »Bis zum Morgengrauen«, was nicht wirklich besser ist, auch nicht im Französischen, wo Streichung und geänderter Titel bis heute aber so geblieben sind.
In Deutschland und in Frankreich fand sich die größte Leserschaft, sonst gab es eher Einzelleser. Der DDR-Zensor verfügte nur geringfügige Streichungen. Thomas Mann, Primo Levi, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer und André François-Poncet beglückwünschten den Dichter. Den Verfilmungsvorschlägen widerstand er zunächst. Aber dann wurde doch ein Film gedreht, Regisseur war Falk Harnack, selbst ein Widerstandskämpfer. Der Film war streng, unerbittlich und ohne Konzessionen, wie der Autor selbst einräumte. In einer Schatulle verwahrte Albrecht Goes die Leserbriefe aus zwanzig Jahren, wo ihm Lämmer und Wölfe schrieben. Es ist wenig, was aus der Literatur vom Anfang der 50er-Jahre Bestand hat wie diese Erzählung. Sie kann auch für die Richtigkeit der heutigen historischen |123| Forschung ein Maßstab sein. Nachdem der Eintritt in entfernte Weltkonflikte für das demokratische Deutschland Normalität geworden ist, sollte der menschenfeindliche Kontext des Krieges in unbegriffenen Regionen und Kulturen das fortdauernde Memento sein.
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Ludwig Baumann
Ein Kampf um Würde. Die Bundesvereinigung »Opfer der NS-Militärjustiz«
Hitler sagte: »Der Soldat an der Front kann sterben, der Deserteur muss sterben.« Das haben die Wehrmachtrichter umgesetzt. Sie haben an uns Wehrmachtdeserteuren die blutigste juristische Verfolgung der deutschen Geschichte begangen: Über 30 000 Todesurteile, über 20 000 Hinrichtungen und bis zu 100 000 Verurteilte, die Konzentrationslager, Straflager oder Strafbataillone nicht überlebten. Viele der Richter haben nach dem Krieg Karriere gemacht, einige sind sogar bis zu Bundesrichtern aufgestiegen. Sie haben die Nachkriegsrechtsprechung entscheidend mitgeprägt. Hätten sie uns rehabilitiert, hätten sie befürchten müssen, selbst angeklagt zu werden. Erst als keiner mehr von ihnen im Amt war, hat der Bundesgerichtshof, vielleicht in später Reue, festgestellt: Die Wehrmachtjustiz war eine »Blutjustiz«. Die Richter hätten sich – so der Bundesgerichtshof wörtlich – wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen verantworten müssen. Im Westen ist nicht einer von ihnen bestraft worden. Die wenigen Richter, die in der DDR bestraft wurden, wurden 1992 mit dem sogenannten Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz alle rehabilitiert, die Urteile aufgehoben, auch wenn sie Dutzende oder Hunderte Todesurteile gefällt hatten. Wir waren dagegen bis zum Jahre 2002 vorbestraft!
Anfang 1941 wurde ich zur Kriegsmarine eingezogen. Ich kam an die Kanalküste und später zur Hafenkompanie nach Bordeaux. Warum ich desertieren wollte – das ist die schwierigste Frage. Also ich kann mich erinnern, dass Hitler im Radio und in den Wochenschauen immer wieder »Lebensraum für das deutsche Volk im Osten« forderte und ich mich – ganz unpolitisch |326| wie ich
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